Übrigens …

Lucrezia Borgia im Essen, Aalto-Theater

Wiederholungstat vor dem Kamin

Die Rettung kam aus Bologna: Am Teatro Communale der norditalienischen Stadt hatten Marta Torbidoni und Francesco Castoro bereits die Hauptrollen in Gaetano Donizettis Oper Lucrezia Borgia gesungen. Äußerst kurzfristig sprangen beide jetzt im Essener Aalto-Theater ein, wo Ben Baurs Neuproduktion durch Krankheitsfälle bis zuletzt auf der Kippe stand.

Geplant für die vorletzte Spielzeit, pandemiebedingt immer weiter verschoben, durchkreuzten die Ausfälle unter anderem das Rollendebüt der Aalto-Solistin Jessica Muirhead in der Titelpartie. Der aktuelle Cast habe sich erst in den letzten Tagen vollständig formiert, so Essens neue Opernintendantin Merle Fahrholz, die auch die Ensemblemitglieder Almas Svilpa, Baurzhan Anderzhanov und Liliana de Sousa entschuldigen musste.

Allen Widrigkeiten zum Trotz kann das Aalto-Theater nun einen klangvollen, musikalisch gelungenen Belcanto-Abend anbieten. Dies festzustellen, braucht es weder Nachsicht noch besonderes Wohlwollen. Marta Torbidoni legt die Titelpartie zwischen weichen, mütterlichen Tönen und dramatischer Attacke an. Ihr Sopran, geläufig und höhensicher, setzt Schärfe nur dann ein, wenn es um die herrischen, gewaltbereiten Seiten der verrufenen Papsttochter geht. Der Tenor von Franceso Castoro, der die Partie des Gennaro bereits an der Bayerischen Staatsoper sang, klingt bei aller Kraft wunderbar hell und leicht. Mühelos zieht er melodische Bögen, die natürlich wirken, zugleich aber emotionsgeladen sind.

Die Regie von Ben Baur fair zu beurteilen, fällt unter den gegebenen Umständen nicht leicht. Er hat einen Einheits-Bühnenraum gestaltet, eine Renaissance-Halle mit großer Feuerstelle, durchzogen von einem Vorhang, der die Geheimnisse um die Figur der Lucrezia symbolisiert. In Anlehnung an die Romanvorlage von Victor Hugo gibt sie sich erst in dem Moment als Gennaros Mutter zu erkennen, als dieser sie erdolcht: ein Motiv, das Baur wiederholt in die Handlung einwebt.

Um das Schicksal dieser Frau greifbarer zu machen, lässt er ihre totgeborenen Kinder über die Bühne geistern und viel Klerus aufmarschieren, der vergifteten Wein kredenzt. Dass Baurs Ideen sich nicht zu einer Inszenierung runden wollen, mag auch an mangelnder Zeit für eine gründliche Einstudierung liegen. Die Sängerinnen und Sänger haben ihre Bühnenwege in Rekordzeit verinnerlicht, wandeln aber häufig bezugslos durch den Raum. Das wirkt ein wenig verloren, obschon die historischen Kostüme von Uta Meenen den Charakter der Figuren unterstreichen. Warum Gennaros Freund Orsini plötzlich als Doppelbild der Lucrezia auftritt – es handelt sich dabei um eine Vision – erschließt sich erst nach der Lektüre des Programmhefts.

Wo die Regie blass bleibt, klingt aus dem Orchestergraben lebhafter Esprit. Was die Essener Philharmoniker unter ihrem designierten Chef Andrea Sanguineti bieten, macht nicht bei banaler Tanzmusik Halt, sondern gibt dem Geschehen psychologische Tiefe. Punktgenau erfasst das Orchester, welche Gefühlsumschläge die Figuren erleiden, wenn ihre Geheimnisse ans Licht kommen. Auch die Kontraste zwischen nächtlichen Stimmungen und fröhlichen Trinkliedern gelingen.

Zum stimmigen musikalischen Gesamtbild tragen weitere Einspringer bei: Davide Giangregorio gibt dem Herzog von Ferrara schurkische Tiefen, Na’ama Goldman dem Orsini edle Töne, aufgeladen mit Ressentiment gegen die Borgia. Die Männerchöre begleiten das Geschehen mit Schwung und Kraft. Solche Leistungsfähigkeit unter schwierigsten Bedingungen sollte niemand für selbstverständlich halten.