Bekehrter Wüterich
Leo Blech, 1871 in Aachen geboren, zählte als musikalischer Chef der Berliner Hof- und nachmaligen Staatsoper („Lindenoper“) zwischen 1913 und bis zu seiner Zwangspensionierung 1937 zu den prägenden Dirigentenpersönlichkeiten des deutschen Musiklebens. Blechs Rang als Opernkomponist bezeugt nun das Theater Aachen. Der Pultstar ist des Hauses Ehrenmitglied, was freilich zwischen 1937 und 1949 geflissentlich unterschlagen wurde. Alpenkönig und Menschenfeind beruht auf Ferdinand Raimunds Altwiener romantisch-komischem Zauberstück gleichen Titels um den misanthropischen Familientyrannen Rappelkopf und den ihn zur Einsicht bringenden Berggeist Astragalus. Der Prager Musikschriftsteller Richard Batka reduzierte Schauplätze und Personage mit ausgesprochenem Sinn für szenische Straffung und operndramaturgische Erfordernisse. Entstehung und Uraufführung des Werks fallen in Blechs Zeit als Erster Kapellmeister am Neuen Deutschen Theater in Prag. Aus der Taufe gehoben wurde die Oper 1903 an prominenterem Ort, dem Dresdner Hoftheater - der „Semperoper“. Dirigent der Novität war kein Geringerer als Ernst von Schuch, der Uraufführungsdirigent auch von Richard Straussens Salome, Elektra und Rosenkavalier. Rasch wurde Alpenkönig und Menschenfeind in Prag nachgespielt, überdies im Jahr der Uraufführung und im Folgejahr an 13 weiteren Bühnen.
Blech will den Humperdinck-Schüler, der er war, nicht verleugnen. Mindestens ebenso prägte den damals in der böhmischen Hauptstadt lebenden Komponisten freilich das Musikantische eines Smetana und Dvorak. Blech zeigt sich daher gleichermaßen dem Märchenhaften popularisierter Wagnerklänge wie auch einem oft eminent tänzerischem Zugriff verbunden. In der besuchten Vorstellung wippen während mancher Passagen nicht allein junge Leute mit dem Oberkörper. Hinzu kommt Blechs Sinn für musikdramatische Zuspitzungen. Die Frage, ob im Jahr 1903 ein Schwurduett wie das der beiden Titelfiguren nicht bereits überständig anmuten musste, erledigt sich durch Blechs schier überwältigende kompositorische Attacke. Sowohl Alpenkönig als auch Menschenfeind sind Baritone. Der Berggeist kommt beinahe als indessen zum Grundgütigen gewandelter Wotan des Wagnerschen „Rings“ daher.
Musikalisch holen die Kaiserstädter das Werk überzeugend aus der Versenkung. Christopher Ward legt sich mit dem Sinfonieorchester Aachen höchst engagiert ins Zeug. Bei aller Schwelgerei und Emphase musizieren Dirigent und Klangkörper durchhörbar und dynamisch differenziert. Die Streicher glänzen opulent. Das Blech ist auf dem Punkt und eine Pracht. Ronan Collett gibt den Alpenkönig Astragalus. Collett weiß sich vokal strahlkräftig in Szene zu setzen. Wiederholt blitzt die Nähe zur Wotansgestalt auf. Menschenfeind Rappelkopf wahrt bei Paul Armin Edelmann unter der Oberfläche auch vokalen Herumpolterns konsequent und gewinnend die sangliche Linie. Für Rappelkopfs Tochter Marthe nimmt Netta Or durch ebenso volle wie runde Tongebung ein. Ihren Verlobten Hans behauptet mit leichten Einbußen im Legato Soon-Wook Ka tenoral gegen die orchestralen Klangfluten. Rollendeckend leichtgewichtig das Buffopaar: Anna Graf ist Lieschen, die Dienerin im Haus Rappelkopf. Hyunhan Hwang singt vom Bühnenrand aus ihren Mitdomestiken und Geliebten Habakuk, während Alexander Wanat szenisch agiert. Die verdiente Irina Popova verkörpert Rappelkopfs Ehefrau Sabine.
Regisseurin Ute M. Engelhardt sorgt schnörkellos für sinnfällig umrissene Figuren und funktionale Abläufe, die ermöglichen, sich primär musikalisch mit dem faszinierenden Werk auseinanderzusetzen. Bisweilen tendiert die Spielleiterin zur Frontalität. Doch im konkreten Fall schadet das nicht. Bühnenbildnerin Henriette Hübschmann siedelt das Geschehen hauptsächlich auf einer scheibenförmigen Spielfläche an. Deren Rand überragt ein lebensgroß sich aufbäumender Schimmel. So sehr die Theaterplastiker des Hauses sich dessen rühmen dürfen, das Tier rechtfertigt sich allenfalls, wenn entweder vom Stück losgelöste Schönheit sich Geltung verschaffen oder die Produktion Aachen als Metropole des Pferdesports bewerben möchte. Nicht anders weitere hippologische Details. Hübschmanns bunt zusammengewürfelte Kostüme sinnen offenbar darauf, schillernde Märchenwelt zu evozieren. Auf die Unförmigkeit des puffärmeligen Kleides für Marthe muss man erst einmal kommen.
Blechs Oper verdient unbedingt nachgespielt zu werden. Das Theater Aachen gibt hierzu einen wichtigen Impuls.
PS: Die Aachener Produktion wurde für eine bei Capriccio erschienene Gesamtaufnahme auf CD konserviert.