Überbordende Bilderflut
Da flimmert eine Zeitreise durch die deutsche Geschichte über die Bühne. Filmeinspielungen, Videosequenzen und stumme Spielszenen auf der Bühne geleiten uns vom wilhelminischen Kaiserreich durch den Faschismus bis hin in die Gegenwart. Paul-Georg Dittrich nimmt Richard Strauss‘ Elektra zum Anlass, in der Geschichte wiederkehrende Gewalt und Gegengewalt zu illustrieren. Dabei sind einige Bilder sehr stimmig. Wir sehen den Komponisten, den Nazi-Kumpanen, Unschuld heuchelnd im Garten seiner Garmischer Villa Pfingstrosen pflücken. Dittrich zeigt dabei deutlich das Zusammenspiel von Kultur und Politik. Ansonsten aber stellt er mehr Fragen als er Antworten gibt: Warum wandelt sich Klytämnestra von der wilhelminischen Hausfrau zu Angela Merkel? Warum trägt Ägisth eine Gerhard-Schröder-Maske? Warum kleidet sich Elektra in eine Nazi-Uniform? Eine Inszenierung darf natürlich Fragen stellen an das Publikum, ohne Antworten zu bieten. Aber es so völlig ohne Verortungshilfe für die vielen Bilder „im Regen“ stehen zu lassen, ist dann doch fragwürdig. Aber vielleicht wuseln deshalb Börne und Thiel vom Münster-Tatort durch die Szenerie. Sollen sie Licht ins Dunkel bringen? Eine Produktion, die selbst nach gründlichem Studium des Programmhefts sich für das Publikum kaum erschließt, bleibt im besten Fall zweifelhaft.
Und es ist dann eine Frage, die sich während des vielfältigen Geschehens auf der Bühne immer wieder in den Vordergrund schiebt: Warum wählt Dittrich ausgerechnet die Elektra für seinen Parforce-Ritt durch die deutsche Geschichte? Der Musik und den Figuren jedenfalls scheint er nicht besonders viel Aufmerksamkeit zu schenken. Er nutzt sie eher als Schablonen: Elektra wird bei ihm zur personifizierten Gewalttäterin, Chrysothemis zum Modepüppchen, das sich in einen Blutrausch steigert und Orest durch wilhelminische Erziehung „zum Mann“ zum Mörder. Dittrich lotet die Charaktere nicht wirklich aus, hört nicht auf die gewaltige Musik. Die Traumata aller Figuren, die Strauss in seiner Partitur so wunderbar und tief auslotet, gehen an Dittrich völlig vorbei. Er stülpt sein Regiekonzept der Partitur über, statt es aus ihr zu entwickeln.
Die Mägde kommen als Kakerlaken daher. Sie partizipieren genüsslich an der von Gewalt geprägten Welt. Maria Christina Tsiakourma, Hasti Molavian, Jooyoung Park, Wioletta Hebrowska, Katharina Sahmland und Robyn Allegra Parton entfalten Schärfe und Gier auf das Feinste. Ebenso gut gestalten Ki Hoon Yoo, Anping Lu und Kiyotaka Mizuno die Dienerfiguren.
Wunderbar schreiend, keifend und quiekend wie ein Schwein im Schlachthof geht Garrie Davislim als Ägisth in den Tod. Tief grundiert mit Erdenschwere und angstbesessen gestaltet Helena Köhne die Klytämnestra und bringt deren Albträume überzeugend zum Ausdruck. Die Fassungslosigkeit ob der Morde, die er begangen hat, steht Johan Hyunbong Choi nicht nur ins Gesicht geschrieben. Er bringt sie auch stimmlich eindrucksvoll zum Tragen.
Margarita Vilsone ist Chrysothemis. Leuchtend macht sie ihren Lebenswillen deutlich und spart ihre Kräfte klug auf für ein furioses Finale. Haushaltend geht auch Rachel Nicholls mit ihrer Stimme um. Sind ihre beginnenden „Agamemnon“-Rufe noch eher verhalten, legt sie alles in fantastische Ausbrüche, als ihre Pläne in Erfüllung gehen - ein wahrhaft loderndes Fanal.
Golo Berg und das Sinfonieorchester Münster brillieren eher in der Feinarbeit, loten Stimmungen aus, bleiben aber in den sonst so ohrenbetäubenden Klanggewalten eher zurückhaltend.
Es dringen auf das Publikum zu viele Eindrücke auf einmal ein. Bilder lassen der Musik zu wenig Spielraum, um sich zu entfalten. Wer auch noch die Übertitel verfolgen will, ist endgültig überfordert. Großer Applaus für die Beteiligten - in den freundlichen Beifall für das Regieteam mischen sich ein paar Buh-Rufe. Die Diskussion über diese Elektra ist eröffnet...