Gefahren für die Demokratie
Politische Intrigen, persönliche Interessenskonflikte und ganz private, ja intime Empfindungen sind eine absolut hochexplosive Mischung, die in einer Katastrophe enden können. Darum geht es in Giuseppe Verdis Simon Boccanegra. Hier erzählt er von der Wahl des wagemutigen Korsaren zum ersten Dogen der Republik Genua. Boccanegra willigt in die Wahl nur ein, um endlich „gut genug“ zu sein für seinen adeligen Schwiegervater in spe und seine Geliebte heiraten zu können, mit der er eine Tochter hat. Doch die Geliebte stirbt und die Tochter verschwindet. Und der Doge regiert 25 Jahre lang, bis die verlorene Tochter wieder auftaucht und sich Liebesverwirrungen mit Aufstandsplänen mischen und die Lage immer weiter hochkocht. Am Ende ist der Doge tot, aber die Tochter heiratet ihren Geliebten, der des Staatsoberhaupts Nachfolger wird. Ein halbes Happy End sozusagen.
Verdi hat seine Figuren nicht allzu tief ausgeleuchtet, viel bleibt an der Oberfläche und nur singuläre Emotionen kommen zum Tragen: Liebe, Angst, Eifersucht werden immer separat ausgedrückt. Deshalb tut Tatjana Gürbaca gut daran, den Fokus nicht auf die Deutung der Charaktere zu legen. Sie beschreibt stattdessen, wie fragil ein Staatsgefüge sein kann, wenn es durch unterschiedliche Interessenslagen bedroht wird. Da sind die überwiegend adligen Ratsherren, die ihre Geschäfte machen, während sie gleichzeitig Einfluss auf die Politik nehmen. Das entspricht einem Lobbyismus ohne Umwege, inbegriffen ungeniert fließender Bestechungsgelder. Sie profitieren auch von der italienischen Kleinstaaterei, die Verdi durch den Mund des weitsichtigen Dogen anprangert. Auf der anderen Seite das Volk, das seine Vorstellungen auch gewaltbereit durchzusetzen versucht. Gürbaca und Kostümbildnerin Silke Willreit greifen da zum sattsam zitierten Bild der Stürmung des US-Kapitols. Genauso schnell wie der Zorn aufrauscht, lassen sich die Massen aber wieder durch Worte des Staatsoberhauptes besänftigen. Ein Schelm, wer dabei an „Politikersprech“ denkt. Klaas-Jan de Groots Chor verkörpert die vox populi eindrucksvoll.
Imponierend auch die in jeder Hinsicht starke Besetzung des Solist*innensextetts. Andrei Nicoara ist ein willfähriger Handlanger des Intriganten Paolo. Mit biegsamer Stimme gibt er den devoten Kumpanen. Paolo ist Heiko Trinsinger. Und Trinsinger verkörpert ungebremsten Hass gepaart mit brachialem Zerstörungswillen. Diese Vitalität des Bösen ist einfach zwingend. Da wird Almas Svilpa , der alte Widersacher Boccanegras, schon von mehr Skrupeln geplagt. Svilpa verdeutlicht die weichen Seiten des ewig Aufständischen mittels wunderschöner elegischer Töne.
Carlos Cardosos Gabriele Adorno wird rein vom Sentiment bestimmt. Imponierend ist, wie er seine Seelenlage stimmlich stupend sicher und emotional unbeirrbar in den Raum meißelt und keine Zweifel aufkommen lässt. Amelia muss vermitteln zwischen Vater und Geliebten. Das lässt sie bisweilen verzweifeln. Verzweiflung und die Liebe zu beiden Antipoden verkörpert Jessica Muirhead schlicht und einfach großartig. Ihr Sopran ist reich grundiert, die Höhen erreicht sie mühelos und kann so sehr differenziert gestalten.
Das kann auch Daniel Luis de Vicente in der Titelpartie. Die eigene Verletzlichkeit gestaltet er mit wunderschönem Timbre und leichtem Zittern - stahlhart ist er hingegen beim Verkünden eines Todesurteils. Und das Besänftigen des Volks gelingt ihm balsamisch-einlullend.
Giuseppe Finzi und die Essener Philharmoniker baden das Publikum in Verdi-Klängen, lassen es eintauchen in die Partitur, deren Schönheit sich vor allem in Duetten und Ensembles offenbart. Finzi hält „den Laden“ zusammen und trägt das Ensemble auf Händen.
Klaus Grünberg gestaltet eine Bühne mit grauen, verschiebbaren Wänden und orangefarbenen Türen und verspiegelten Fenstern. Das deutet auf die siebziger Jahre hin, genau wie die Flower-Power-Kostüme. Der Sinn dieser zeitlichen Verortung erschließt sich nicht so recht, wie auch Gürbacas Deutung etwas unscharf bleibt.
Diese Unschärfe kann aber nicht der Grund für die Buh-Rufe gewesen sein, die bei der Premiere dem Regieteam gelten. Hier mag eher Gürbacas Ruf, als „unbequeme“ Regisseurin Vater der Unmutsäußerungen gewesen sein, die jedoch beim Simon Boccanegra in keiner Weise nachvollziehbar sind. Der überwiegende Teil signalisierte Zustimmung zu dieser Inszenierung.