Nachts im Museum
Sich vorzubereiten auf den Besuch einer Händel-Oper gestaltet sich als schwierig. Denn schon die Lektüre der Inhaltsangabe führt meist zu schierer Verzweiflung und Haareraufen. Man wird vor lauter Namen und Handlungsfallstricken ins pure gedankliche Chaos gestürzt. Also besser nichts lesen, einfach ins Theater gehen und sich Händels Musik überlassen. Spätestens nach einer Viertelstunde kann man der Handlung mühelos folgen - und wenn nicht, sich an des Komponisten wunderbarer Fähigkeit erfreuen, Gefühlen und deren Nuancen ganz fein und überaus virtuos nachzuspüren. Für beide Möglichkeiten stoßen Kay Link und sein Regieteam, das singende Ensemble und das Symphonische Orchester unter Per-Otto Johansson die Türen weit auf.
Link verortet den Xerxes in einem Museum, in dem neben Gemälden in russischer Hängung auch moderne Installationen zu sehen sind. Bevölkert wird der Raum von Besucher*innen, die auch einer Vernissage beiwohnen könnten. Außerdem wuseln uniformierte Angestellte und eine unermüdliche Kuratorin durch die Gegend. Mittendrin tummeln sich die Figuren aus Xerxes, interagieren zwar ab und an mit dem Personal, sind aber weitgehend mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Und die heißen im Wesentlichen Liebe und Eifersucht, Verlassenwerden und Einsamkeit, Rachegelüste und Entsagung. Und auch wenn man im sich entspinnenden Intrigengewirr bisweilen die Übersicht verliert, kann man diese Gefühle in den Arien intensiv spüren. Sie gehen einfach unter die Haut.
Dass das so perfekt gelingt, ist auch Kay Links differenziertem Spiel mit den Geschlechterrollen zu verdanken. An keiner Stelle wird nämlich ganz klar, wer Mann und wer Frau ist. Die Protagonist*innen bewegen sich alle im non-binären Spektrum und vielleicht ist gerade deshalb die tiefe Auslotung der jeweiligen Gefühlslagen besonders glaubwürdig und nachvollziehbar. Und was setzt einem solchen Ansatz in einer Barockoper die Krone auf? Ein strahlender Held natürlich. Mit sicheren hohen Tönen, die man bewundert. Oder eine echte Primadonna, der man wegen ihrer traumwandlerischen Koloraturen zu Füßen liegt. Und beides bietet der Detmolder Xerxes. Dazu noch in einer Person: Countertenor Maayan Licht ist strahlend herrischer Kriegsherr und mit irre langer Schleppe auch betörender Vamp. Das alles erinnert sicher nicht ganz zufällig an die Rocky Horror Show. Licht singt nicht nur fantastisch, er ist auch darstellerisch eine absolute Rampensau. Bombastisch!
Doch das übrige Ensemble steht ihm an Spielfreude nicht nach. Der Opernchor unter Francesco Damiani singt und spielt, dass es eine Freude ist. Irakli Atanelishvili ist Ariodate und Xerxes treu ergeben. Das untermauert er stimmlich überaus gravitätisch.
Die Dienerfigur gibt gewandt Seungweon Lee und wagt sich an eine überaus komische Travestie im eng sitzenden „kleinem Pinkem“. Lee verfügt über eine absolut humorvolle Ader und kann sie hier ausleben. Penelope Kendros schmiedet als Atalanta eine Intrige nach der anderen und findet mit ihrem flexiblen Sopran auch immer schnell eine Ausrede, wenn etwas schief läuft.
Dorothee Bienert als die von Xerxes verlassene Geliebte Amastre lässt von Anfang an offen, ob sie Mann oder Frau ist, legt aber immer den manifesten Grundton der Trauer in ihre Stimme. Der schwingt bei ihr ständig mit, prägt jede Silbe, die sie gesanglich formt. Stephanie Hershaw ist Romilda, die Xerxes‘ Bruder liebt, aber vom Herrscher bis zur Gewaltandrohung bedrängt wird. Hershaw beglaubigt diesen ständigen Druck, der auf sie ausgeübt wird seelenerschütternd. Klar formuliert sie Standfestigkeit und Ängste - das ist ein schwer beeindruckendes Rollenporträt.
Und dann ist da Lotte Kortenhaus als Xerxes‘ Bruder Arsamene. Mag sie bisweilen darstellerisch auch etwas unbeholfen wirken, wiegt ihre Stimme alles auf. Sie ist das völlig ebenbürtige Gegengewicht zu Xerxes‘ Extrovertiertheit - in sich gekehrt hadert sie mit ihrer Eifersucht, hofft zitternd auf ihr Glück, von dem sie weiß, dass es vom Bruder abhängt. Kortenhaus arbeitet den Konflikt zwischen inniger Liebe zu Romilda und der Loyalität zum Bruder detailliert heraus und steht Maayan Licht in der intensiven Gestaltung des Rollenprofils in nichts nach.
Das Symphonische Orchester empfiehlt sich nachdrücklich für barocke Opern. Per-Otto Johansson kitzelt alle von Händel implizierten Gefühlswelten fein ziseliert heraus.
Ein beglückender Opernabend im Landestheater Detmold, der rundherum zufrieden macht und wieder klar stellt, welch inspirierender Opernkomponist Händel doch ist und zu welch‘ herausragender Leistung ein mittleres Haus wie Detmold fähig ist - ein überzeugendes Plädoyer für die Opern-Kompetenz in Nordrhein-Westfalen.