Sibirische Kälte und lodernde Emotionen
Stephana, eine Edelkurtisane aus Sankt Petersburg, gibt ihr Luxusleben auf. Sie folgt ihrem wahren Geliebten Vassili in die Verbannung nach Sibirien. Dort sterben beide bei einem Fluchtversuch aus der Strafkolonie.
Das ist die Handlung von Umberto Giordanos Siberia. So einfach und simpel erzählt Librettist Luigi Illica die Geschichte. Und auch Giordanos Musik leuchtet seine Figuren nicht besonders tief aus, sondern poliert deren Oberfläche auf Hochglanz. Eine ziemlich flache Angelegenheit also.
Wie daraus dennoch zwei Stunden pures Vergnügen und lustvolle Unterhaltung werden können, stellt jetzt die Oper Bonn unter Beweis.
Regisseur Vasily Barkhatov entwirft eine Geschichte rund um die Oper: Eine alte Frau reist im Jahr 1996 von Rom aus quer durch Russland nach Sibirien mit einer Urne im Gepäck. Das soll wohl die Tochter von Stephana und Vassili sein. Am Ende verstreut sie die Asche aus der Urne am Todesort ihrer Eltern- Dann legt sie sich in den Schnee und stirbt, während sie sich im Traum an der Seite ihrer Eltern wähnt. Via schwarz-weiß-Film erzählen Barkhatov, Pavel Kapinos und Sergey Ivanov diese Geschichte, die sich immer stärker mit der Handlung auf der Bühne verquickt. Obwohl bis zum Ende eigentlich nicht klar wird, wessen Asche da eigentlich verstreut wird, fasst diese Parallelhandlung das Geschehen in einen wunderschönen, sehr poetischen Rahmen.
Auf Christian Schmidts praktischer Bühne verwandelt sich der Spielsalon der Kurtisane ohne viel Aufhebens in ein sibirisches Gefangenenlager. Dort zeigt Barkhatov eine - trotz widriger Umstände und teils grausamer Behandlung durch das Lagerpersonal - glückliche Kleinfamilie in Bildern die schon recht nahe am Kitsch sind. Stephana kommt fast herüber wie eine Madonna nit Kind im ledernen Reisekoffer. Das Glück endet als in Gestalt von Stephanas Ex-Liebhaber Gleby die dunklen Schatten der Vergangenheit aufziehen. Was bleibt, ist der Fluchtversuch und der Tod – vom Regisseur schnörkellos erzählt.
Was diesen Abend zum Ereignis macht, ist zweifellos die musikalische Umsetzung. Das Ensemble der Bonner Oper funkelt geradezu voller kleiner, blitzender Steine bis hin zu Mehrkarätern. Giordano schreibt dem Chor eine gewichtige Rolle zu. Und Marco Medveds Frauen und Männer stellen sich dieser Aufgabe mit Emphase. Sieerzeugen eine traurig-sehnsuchtvolle Grundstimmung, die stets im Raum zu schweben scheint und widmen sich lustvoll dem Lokalkolorit. Die Besetzung der kleineren Rollen lässt auch keine Wünsche offen und so rundet sich alles zu einem Ganzen, in das sich auch die tragenden Rollen nahtlos einfügen.
George Oniani ist als Vassili ein Naturbursche, der unerschöpflich kraftvoll seine Liebe zu Stephana bekräftigt und sich deshalb auch zu einigen Torheiten hinreißen lässt. Das Gegenteil von ihm ist Giorgos Kanaris. Sein Gleby ist ein mit allen Wassern gewaschener Emporkömmling, der sich anzupassen und Intrigen zu schmieden versteht. Kanaris beglaubigt das mit biegsamer, makellos changierender Stimme.
Yannick-Muriel Noah als Stephana ist ein Ereignis. Sobald sie zu singen beginnt, ist ihr absolute Aufmerksamkeit gewiss. Sich einmal über die Liebe zu Vassili im Klaren, lässt sie sich durch nichts mehr davon abbringen, vollkommen zu ihr zu stehen – auch wenn diese Entscheidung sich als fatal erweisen wird. Soviel Liebesglut, soviel Gewissheit legt Noah in ihre Stimme und ist mit jedem Ton absolut glaubwürdig.
Daniel Johannes Mayr lässt das Beethoven-Orchester im wahrsten Sinne des Wortes „von der Kette“: Russland-Stimmung wie von der Kitsch-Postkarte? Kein Problem! Ständig wechselnde Emotionen bis ins Äußerste ausgereizt? Gar kein Problem! Mayr und sein Orchester schaffen Klanggebilde, in die man sich fallen lassen kann.
Sehnsucht, Liebe und Tod in einer einfachen Geschichte mit grandios interpretierter Musik – einfach den Verstand ausschalten und sich hingeben. Das soll, darf und muss ab und an sein. Zwei Stunden voller Klangseligkeit, die ohne Reue in Bonn genossen werden können.