Übrigens …

Danse Macabre im Weltkunstzimmer Düsseldorf

Ein ekler Wurm entstellt ein Land

Wer im glücklichen vorpandemischen Jahr 2019, lange vor dem neuen Krieg in Europa, das Glück hatte, bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen ihr „Roses“-Konzert zu hören, hat, wenn nicht ein Déjà-vu, so doch ein Déjà-entendu: In kurzen Tanz-Röckchen aus dunkelgrauem Tüll entern die Töchter des Kiewer Dakh Theaters die Bühne im Weltkunstzimmer bei Christof Seeger-Zurmühlens und Bojan Vuletics Asphalt Festival und fetzen los: mit rotziger, frecher Rock- und Punkmusik, die das Publikum sofort auf Betriebstemperatur bringt. So kennen wir sie … aus besseren Tagen, will man gerade schreiben, denn wir Westeuropäer fühlten uns 2019 sicher vor Bomben und Krieg. Die Ukrainerinnen mögen schon damals realistischer auf die politische Lage geblickt haben: Sie hatten bereits die widerrechtliche Annexion der Krim erlebt. Zuvor hatte der ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch das Land politisch wieder näher an Russland heranführen wollen und sich geweigert, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Der „Euromajdan“ war die Folge; das Volk ging auf die Straße. Und dort, auf den Barrikaden des Majdan und anderswo, wurde das Lied von den Donbass-Rosen zur Hymne.

Das siegreiche Volk vom Majdan befindet sich wieder im Kampf. Die „Donbass-Rosen“ sind das Lied, mit dem die Dakh Daughters in ihrer jüngsten Performance den Totentanz beginnen. Man flicht Teile des Texts von Shakespeares Sonett Nr. 35 ein: Die Ros' ist dornig, Schlamm trübt silberhelle Quellen, / Wolk' und Verfinst'rung, Sonn' und Mondenbahn, / Die schönsten Knospen darf ein ekler Wurm entstellen.“ Die Dakh Daughters, die angeschlossen waren an eines der bekanntesten Avantgarde-Theater der Ukraine unter der Leitung von Vlad Troitskyi, der auch die Regie von Danse Macabre übernommen hat, flohen nach dem Überfall Russlands auf ihr Land. Sie erhielten Asyl am Centre Dramatique National de Normandie in Vire und arbeiten von dort aus weiter - anders als bisher: weniger rotzig und frech, häufiger leise, voller Trauer und voller Verlustängste. Erstaunlich selten bricht die Wut offen aus ihnen heraus.

Plötzlich wird das Lied von den Donbass-Rosen durch schrilles Sirenen-Geheul abgebrochen: Bombenalarm. Tüll-Röckchen aus, Trenchcoat an. Die mehrstöckigen Wohnblock-Häuser, die (in verkleinertem Maßstab, versteht sich) die Bühne mit warmem Licht illuminiert hatten, werden jetzt zu Koffern; in ihren Fenstern flackert es nun rot wie Feuer. Reisekoffer werden multifunktional genutzt: als Schutz gegen Kugelhagel, als Rollator für ein alte Frau, in geöffnetem Zustand als Schrein für Erinnerungen aus lang zurückliegender Vergangenheit. Die Dagh Daughters, inzwischen erweitert um Tetiana Troitska, fliehen wie so viele ihrer Landsleute. Mit ihren Liedern und eigenen Texten sowie Zitaten von der Bibel bis zur ukrainischen Literatur erzählen sie von den Erfahrungen, die vor allem die Frauen im Krieg machen: von Massenvergewaltigungen, von brutaler Folter, von der Angst um ihre Männer, von deren Tod. Teilweise beruhen diese Texte auf authentischen Berichten von Ukrainerinnen und Ukrainern. Träume, Hoffnungen prallen auf harte Realität; manchmal sind die Berichte schwer auszuhalten.

Über weite Strecken findet die Aufführung einen perfekten Rhythmus zwischen Trauer und Wut, Poesie und Melancholie, bestürzenden Momenten und Zärtlichkeit - ergänzt, wenn nicht alles täuscht, mit ein wenig verrockter ukrainischer Folklore. Nur der freche Punk und die anfängliche Aufforderung zum Mittanzen wiederholen sich nicht: „Mein Harfenspiel ist zur Klage geworden und mein Flötenspiel zum Trauerlied“, zitieren die „Töchter“ aus dem Buch Hiob. Die Geschichte von Hiob wird den Performerinnen ohnehin zur Metapher für das Leid ihres Landes: Gott lässt es zu, dass der Satan Hiob alles nimmt, sein Haus, sein ganzes Hab und Gut, nur an ihn selbst darf er nicht Hand anlegen. Und am Ende geht die Geschichte noch einigermaßen gut aus. (Wobei Hiob, das sein hier einmal angemerkt, im Gegensatz zu den Ukrainern ja nicht einmal wirklich kämpft, nur standhaft bleibt.) – Eine alte Wahrsagerin erzählt eine Geschichte aus dem Krieg mit einem zutiefst bitteren Humor. Ein Lied über die Raben, die täglich über das mehr und mehr zerstörte Land fliegen, endet mit dem Ruf nach Freiheit. Und immer wieder tanzt zur Musik und zu den Texten der Performerinnen neben der Szenerie eine in ein schwarzes Kapuzen-Cape gekleidete Figur: der Tod tanzt einen Totentanz, mit Verve und großem Selbstbewusstsein.

Die Performerinnen ziehen wieder ihre Koffer neben sich her. Sie sind außer Gefahr, aber sie bleiben unbehaust, entwurzelt: Die Luft riecht anders, das Wasser schmeckt anders, klagen sie. Die Geschichten über Vergewaltigungen, Tod und Verluste wiederholen sich nun; zwanzig Minuten kürzer wäre der – insgesamt herausragende – Abend noch wirkungsvoller gewesen. Irgendwie wirkt er wie ein Requiem, nur gelegentlich noch unterbrochen von verhaltener Rockmusik und allegorischen Texten. Die Stimmung wird mehr und mehr resignativ; der Kampfesmut scheint zu erlahmen: „Gedenke, Mensch, deiner Sterblichkeit. Wie lange dein Leben auch sei: Du musst sterben“, heißt es. Vielleicht ist das wie in der christlichen Tradition ein Memento mori als Widerstand gegen den Verfall der Moral. „Gleichzeitig hat alles Sinn, Zweck und Bedeutung verloren“, sinniert eine der Performerinnen. Aber: „Gleichzeitig habe ich kein Recht zu schweigen.“