Wohin gehen wir?
Im „Agnus Dei“ kulminiert das Geschehen. Statt einer einmütig, inbrünstigen Bitte um Frieden gerät das „Dona nobis pacem“ der katholischen Messliturgie zu einem vielstimmigen, individuellem Rufen. Zornig, bitter, aber auch hoffnungsvoll werden Angst um den Zustand der Welt, Glaubenszweifel und Bitterkeit herausgeschrien. Dabei beginnt Leonard Bernsteins Mass so friedlich und voller Zuversicht. Ein „Celebrant“ ruft die Gläubigen herbei zur Feier der Messe, zum Lob Gottes. Doch bald schon beginnen sich Misstöne einzuschleichen in diese Feier, Kritik wird geäußert am Wirken Gottes, erst leise, versteckt und murrend. Dann lauter und schließlich anklagend und selbstbewusst. Kann Kirche, kann Glauben noch Hilfe sein im wirklichen Leben? Auch den „Celebranten“ beschleichen immer mehr Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Ritus‘. Am Ende wird er sich seines Ornats entledigen und Monstranz und Messkelch vom Altar fegen als unwiderrufliches Zeichen des Bruchs mit seinem Glauben.
Leonard Bernstein hadert in Mass mit seinem Glauben, bleibt dabei aber immer konstruktiv, versucht dem Einzelnen, Möglichkeiten und Perspektiven aufzuzeigen, den eigenen Weg, den individuellen Bezug zum Spirituellen zu finden. Bernstein untermauert die Darstellung der Unsicherheit und des Gefühls von Alleingelassenwerden mit einem waghalsigen musikalischen Stilmix: Jazz, Blues, Rock und vieles anderes mehr tauchen auf. Hebräische Texte werde vertont und betonen so, dass es bei allen Zweifeln nicht nur um das Christentum geht, sondern alle Religionen eingeschlossen sind. Man mag Bernstein Eklektizismus vorgeworfen haben, aber diese Musik ist großartig und aktuell, einschließlich der Gitarren-Riffs. Punktgenau beschreibt sie die Fragen, die sich Menschen stellen in ein zerrissenen Welt, in der wir leben.
Eine Steilvorlage für einen Regisseur also. Zumal am Theater Münster ob des Gedenkjahres „ 375 Jahre Westfälischer Frieden“ die Frage „Und wenn morgen Frieden wäre?“ als Motto die neue Spielzeit begleiten wird. Tom Ryser nutzt diese Chance nur bedingt. In Stefan Rieckhoffs wundervoll gestalteten Kathedralraum stellt er Skepsis und Zweifel der Figuren in den Mittelpunkt, verzichtet gänzlich auf Aktualisierung - obwohl Bernsteins „A Theatre Piece for Singers, Danvers and Players“ (so der Originaltitel) dazu gerade einlädt. Deshalb wirkt auch der Messdienerchor (von Rita Stork-Herbst, Margarete Sandhäger und Jörg von Wensierski prächtig einstudiert) angesichts der aktuellen Missbrauchsskandale der Kirchen ein wenig zu niedlich. Aber Ryser bewegt die Massen an Beteiligten seinem Konzept gemäß sehr sinnfällig. Niemand ist unbeachtet, alle werden perfekt ins gesamte Bühnengeschehen eingepasst. Auch die Bühnenmusiker*innen haben in schlichten Messgewändern ihren Platz. Angesichts der nicht weniger als bis zu 140 Menschen auf der Bühne ist Rysers Leistung in diesem Punkt nicht hoch genug zu loben.
Lilian Stillwells Tänzer*innen gliedern die Szenen: Mit lang ausgehaltenen Posen kreieren sie Momente der Stille und Besinnlichkeit, befeuern andererseits aber auch die aufkommende Unruhe unter dem Kirchenvolk.
Anton Tremmels Chor mischt sich perfekt in das Geschehen und ist vokal stets auf der Höhe. Rock-und Bluessingers machen ihre Sache ganz prima. Das gilt auch für die Solisten, unter denen Katharina Sahmland und Maria Christina Tsiakourma vom „Street Chorus“ herausstechen.
„Celebrant“ Samuel Schürmann beginnt ganz toll in den leisen Szenen zu Beginn, am Ende verlässt ihn jedoch ein wenig die Kraft. Das ist bei einer derart anstrengenden Partie jedoch verzeihlich.
Der meiste Schweiß am Premierenabend dürfte jedoch bei Thorsten Schmid-Kapfenburg geflossen sein. Als musikalischem Leiter obliegt es ihm, den Abend „zusammen zu halten“. Das ist - allein wegen der riesigen Zahl der Akteur*innen - einer Herkules-Aufgabe vergleichbar. Schmid-Kapfenburg und meistert sie bravourös: Singendes Personal, Bühnenmusik und Orchestergraben - alles kommt daher wie aus einem Guss. Und auch Bernsteins Musik wird in ihrer packenden Vielfalt dem Publikum unmittelbar zugänglich gemacht.
Der musikalische Leiter ist in diesem Fall der Garant für einen wunderbaren Saisonauftakt des Theaters Münster - Gratulation!