Übrigens …

Turandot im Detmold, Landestheater

Verschlungene Pfade der Liebe

Holger Potockis Turandot ist ein Ausflug in eine noch nicht so ferne total analoge Vergangenheit. Es gibt Röhrenfernsehgeräte und eine völlig old-fashioned Video-Kamera, die „digital Natives“ sicher wie Gegenstände von fernen Planeten betrachten dürften. Eine Welt also, die trotz zeitlicher Nähe weit genug entfernt ist von unserer Realität,perfekt dazu geeignet, darin ein Märchen zu verorten und dessen Handlung auszubreiten. Und so erzählt Potocki die Geschichte der grausamen Kaiserstochter Turandot, die alle Freier hinrichten lässt, wenn sie nicht drei Rätsel lösen können. Sie will frei bleiben und sich keinem Mann hingeben. Das geht solange gut, bis sie selbst der Faszination der Liebe erliegt..

Glasscherben an Baugittern umrahmen Turandots Welt und die ihrer Untertanen. Sie bilden ein scheinbar durchsichtiges Äußeres im Verbund mit absoluter Härte und Unbeugsamkeit ab - ein Bild, das mit Verlaub ein wenig durchsichtig ist, um beim Glas zu bleiben. Diese Symbolik gipfelt im gläsernen Henkersbeil, das blutbesudelt auf die Bühne schwebt.

Potocki lässt aber auch sehr aktuelle Bezüge in seine erschaffene Märchenwelt einfließen. Schlammgrau, uniform gekleidet sind Turandots Untertanen, die sich - von Angst niedergedrückt - nie aufrecht bewegen, sondern halbkriechend oder auf Knien rutschend. Und sie bekommen gnadenlos den Willen der absoluten Herrscherin zu spüren. Turandot ist bereit, alle zu opfern, um ihren Willen durchzusetzen. Das macht sie ohne Anflug von Mitleid deutlich. Und doch gibt es auch für die Geknechteten Hoffnung auf Erlösung. Die manifestiert sich in dem Augenblick, in dem Turandot das Wesen der Liebe erkennt und sich ihr öffnet. Holger Potocki und sein Team lassen diese Hoffnung strömen, geben ihr freien Lauf. Und so gilt am Schluss wie bei jedem Märchen der Satz: „Ende gut, alles gut!“.

Märchenhaft ist auch die musikalische Umsetzung von Puccinis Werk. Francesco Damianis Chöre bringen wunderbar differenziert die Gefühlswelt des chinesischen Volks zum Ausdruck und kommentieren sensibel abgestuft den Handlungsverlauf. Wunder- und wandelbar sind die Minister Ping, Pang und Pong. Daniel Gwons, Stephen Chambers‘ und Hyunsik Shins Stimmen mischen sich perfekt und geben Zeugnis von fernöstlichem Langmut - egal, ob sie Bestattungen oder Hochzeiten planen.Traumhaft schön erzählen sie von ihren Heimatprovinzen, nach denen sie sich so sehr sehnen, ohne den aktuellen „Politbetrieb“ jedoch wirklich missen zu wollen.

Balsamisch breitet Seungweon Lee seine Leiden als vertriebener König Timur aus, dessen Klage um seine Sklavin Liù sicher einer der Höhepunkte dieser Inszenierung ist. Das trifft auch auf Cristina Giannellis Liù zu. Giannelli singt frei und ungeschützt, offenbart ihre grenzenlose Liebe zu Calàf, für die sie bereit ist zu sterben und das letztlich auch tut. Giannellis Stimme berührt zutiefst. In ihrer schlichten Wahrhaftigkeit offenbart sie Turandot den wahren Charakter der Liebe.

Oksana Kramareva gibt als Turandot alles: Sie ist kratzbürstig, herrisch und innerlich völlig aufgewühlt, als sie ihre aufkeimende Liebe zu unterdrücken versucht. Kramareva ist ein Vulkan vor dem Ausbruch und riskiert dabei eine Brüchigkeit in ihrer Stimme, die hier ihre Auslotung des Charakters durchaus unterstützt - auch wenn sie manchmal die Grenze zur Exaltiertheit durchaus erreicht. Eine echte Entdeckung ist Ji-Woon Kim als Calàf. Bronzen, fast baritonal ist sein Tenor gefärbt, der sich aber mühelos in die Höhen heraufzuschrauben vermag. Kim ist ein sanfter, geduldiger Prinz, der seine Angebetete liebevoll anleitendend von sich überzeugen will - nie aufdringlich, aber von seiner „Mission“ bis ins Innerste überzeugt.

Per-Otto Johansson und sein Symphonisches Orchester stürzen sich mit Verve und Lust in Puccinis schwelgerische Musik und weben einen überbordenden Klangteppich. Da haben sich Partner gefunden, die sich gegenseitig zu animieren scheinen.

Nessun dorma“ - „Keiner schlafe“ - eine solche Mahnung ist bei dieser Turandot gewiss nicht nötig. Die Musik drückt in die Theatersessel, animiert und berauscht.