Im neunten Kreis der Hölle
Schon erstaunlich, wie anteilnehmend man sich hier über das Schicksal von Mördern, Verbrechern und Landstreichern beugt. Im wahren Leben wäre das wohl anders. Aber hier, bei der jüngsten Opernproduktion der Ruhrtriennale, ist es unausweichlich. In der Bochumer Jahrhunderthalle werden die Premierenbesucher Teil des Spiels, werden zu Statisten einer Aufführung von Leoš Janáceks letzter Oper Aus einem Totenhaus, die der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov für die Triennale in Szene gesetzt hat.
Von den Galerien eines Stahlgerüsts herabblickend, das die monumentale Halle in drei Käfige unterteilt, erleben sie aus großer Nähe, wie die Welt zum Gefängnis wird - und das Gefängnis zur Welt. Für jene, die direkt um die Spielfläche herum stehen, ist die Unmöglichkeit zur Distanzierung beinahe etwas riskant. Denn in diesem Männermilieu wird gepöbelt, geprügelt, getreten und gewürgt, was das Zeug hält.
Natürlich sind es nur Scheinangriffe, aber sie erfolgen mit erheblicher Vehemenz. Die Erfahrungen aus vier Jahren in einem berüchtigten Gefängnis im sibirischen Omsk, die Fjodor Dostojewski in seinem autobiographisch gefärbten Roman geschildert hat, haben Leoš Janá?ek dazu bewegt, noch einmal seine Stimme für die Schwachen, die Schuldbeladenen und Ausgestoßenen zu erheben.
Diese Botschaft greifen Tcherniakov und der US-amerikanische Dirigent Dennis Russell Davies engagiert und kompetent auf. Ihnen geht es nicht um Sympathie für Verbrecher, und erst nicht darum, ein bürgerliches Publikum in den Zustand wohlig-gruselnden Schauderns zu versetzen. Vielmehr klopfen sie das von Janácek formulierte Motto des Werks, dass „in jedem Geschöpf ein Funke Gottes“ stecke, auf seine Kehrseite ab. Sie fragen, inwieweit nicht auch das Böse, ja Teuflische zur Natur des Menschen gehört. Das Freiheitssymbol des Adlers mit den gebrochenen Schwingen, der zum Schluss geheilt wieder in die Lüfte steigt, versteht Tcherniakov als bloßen Wunschtraum. Der einst von zwei Janacek-Schülern angehängte Freiheitschor entfällt: in Bochum wird die durch Charles Mackerras bekannt gewordene Fassung des Musikwissenschaftlers John Tyrell gespielt.
Indem die Regie keine reale Haftsituation nachstellt, sondern einen zeitlos-abstrakten Raum von Rechtlosigkeit und Gewalt ausgestaltet, tritt aus dem Stück eine zentrale Frage hervor: Was wäre der Mensch, was wären wir alle zu tun bereit, wären die Umstände nur grausam genug? Was, wenn es um die eigene Haut ginge, ums nackte Überleben? Die Kostüme von Elena Zaytseva sind so gehalten, dass sich Besucher und Akteure kaum voneinander unterscheiden. Ob wir es wollen oder nicht, das Stück umklammert uns und hält uns fest.
Mit bemerkenswerter Konsequenz zieht die Ruhrtriennale hier eine künstlerische Linie durch. Sie führt von Dostojewkis Nicht-Roman, der eigentlich nur Episoden aneinanderreiht, zu Janáceks Nicht-Oper, die keine Arien und keine Hauptfiguren kennt, in einen Nicht-Opernraum, der andere Möglichkeiten eröffnet als die traditionelle Bühne. So wird eine Kunstform aus ihrem angestammten Ort herausgeholt, die Barriere zwischen Zuschauern und Darstellern durchbrochen. Musikvermittler dürften das bejubeln, indessen hat die Sache auch einen Preis.
Dieser ist akustischer Natur, wie in einer Halle von mehreren tausend Quadratmetern kaum anders zu erwarten. Während das Publikum von Akt zu Akt mit den Akteuren mitwandert, müssen die Bochumer Symphoniker auf ihrem Platz verweilen. Das führt zu Verzerrungen: Ein Pianissimo ist dem Orchester angesichts des zu bespielenden Raums kaum möglich. Zu Beginn wird der Orchesterklang beinahe vom Gebrüll der hereinstürmenden Männer übertönt.
Gleichwohl bleibt das Orchester der eigentliche Hauptakteur, der die gesamte Atmosphäre des Abends bestimmt. Dennis Russell Davies, mit der Minimal Music von Philip Glass bestens vertraut, versteht sich großartig auf die Wiederholungselemente dieser Partitur, auf ihren expressiv aufgerauten, irisierenden Klang samt rasselnder Ketten und volkstümlichen Anklängen. Wie er sich am Pult der Bochumer Symphoniker für Janáceks Musik einsetzt, weitet den Abend immer wieder zu einer Tondichtung, unterstützt von dem Chor der Janácek-Oper des Nationaltheaters Brünn, der langjährigen Heimat des Komponisten.
Weißlich, fast schneidend tönt es aus dem Orchester, wenn die Gefangenen auf nacktem Boden Liegestütze exerzieren: eine namenlose, amorphe Masse in Reih und Glied. Militaristisch knattert die kleine Trommel, dumpf dröhnen Blech und Pauken, wie wahnsinnig zuckt und flattert es in den Flöten: Wer in diesem Umfeld nicht durchdreht, ist meistens kurz davor. Wie die Bochumer Symphoniker durch die oft fehlenden Mittelstimmen den Eindruck einer „Arte povera“ erwecken, ist karg und beklemmend zugleich.
Die Sängerdarsteller rennen und raufen, wälzen sich verbal und buchstäblich im Dreck und schaffen es bei all dem noch, exzellent zu singen. Der dänische Bass-Bariton Johan Reuter, als Wozzeck-Interpret von hohen Gnaden bekannt, verkörpert den politischen Häftling Gorjancikov, dessen Gefangennahme und Freilassung den Rahmen der Handlung setzt. Obgleich seine Gesangspartie keine große ist, nimmt er uns an diesem Abend gewissermaßen an die Hand, führt uns ein in die von Menschen gemachte Hölle. In Haltung und Stimme zeigt er uns, wie aus einem arglosen Zivilisten eine gepeinigte, entrechtete Kreatur mit animalischem Überlebenstrieb wird.
Beinahe ist es unfair, ihn aus dem Ensemble herauszuheben. Denn es gibt keinen, der hier nicht höchsten Einsatz zeigte: Bekhzod Davronov als der junge Invalide Aljeja, Leigh Melrose als heimtückisch-brutaler Šiškov , John Daszak als furchterregendes Kraftpaket Skuratov, Stephan Rügamer als Luka/Filka, Alexey Dolgov als Šapkin. Neil Shicoff bekommt für seine Rolle als „der Alte“ eine Extraportion Applaus.
Damit es auch ja nicht bequem wird, gönnt das Produktionsteam dem Publikum keine Sitzgelegenheiten. Es gilt, die knapp zweistündige Aufführung im Wortsinn durchzustehen. Wir können das guten Gewissens empfehlen: Es lohnt sich.