Das Z-Wort in Bielefeld
Über George Bizets Carmen rümpfte die Gesellschaft einst die Nase. Eine Frau aus der Unterschicht, die sexuelle Freiheit einfordert und gegen die Dominanz der Männer rebelliert, empfand das Pariser Opernpublikum 1875 als ungehörig - und die realistische Darstellung als schockierend. Auch dem Produktionsteam der neuen Carmen am Theater Bielefeld scheint die Titelfigur anrüchig zu sein, aber aus völlig anderen Gründen.
Was tun mit dieser Ikone weiblicher Selbstbestimmung, wenn der Rassismus-Vorwurf jedem droht, der das Wort „Zigeunerin“ auch nur zu denken wagt? Wie jenen ausweichen, denen Stierkampfbegeisterung nichts als Ausdruck eines üblen Machismo ist und die Spanienfolklore ein Beweis kultureller Aneignung? Die in Frankfurt lebende Regisseurin Ute M. Engelhardt, 2016 mit dem renommierten Götz-Friedrich-Preis ausgezeichnet, flieht vor möglichen Beschwerden ins politisch Korrekte. Die Oper Carmen wird für sie zum Anlass, über gewaltgeprägte Partnerschaften nachzudenken. Mit erhobenem Zeigefinger weist sie auf die wachsende Zahl von Frauen, die aufgrund ihres Geschlechts ermordet werden.
So trostlos diese Tatsachen sind, sehen sie auf der Bühne auch aus. Die Regie verweigert alles Bunte, Sinnliche und Lebensfrohe, vom Folkloristischen ganz zu schweigen. Die erste Szene spricht bereits Bände: kein heiterer Trubel auf dem Dorfplatz, sondern eine schwarz uniformierte Soldateska, die dumpf auf dem Boden hockt. Don José gibt dem Bauernmädchen Micaëla keinen Kuss, sondern eine Ohrfeige. Die Regie dichtet ihr ein blaues Auge an, das sie hinter einer Sonnenbrille versteckt, und verdreht den Streit in der Zigarettenfabrik flugs zu einem Duell zwischen Carmen und Micaëla.
Die Kostüme von Christian Andre Tabakoff sind so dunkel wie uniform. Dazu gibt es eine leergefegte Bühne von Stephanie Rauch, angesichts derer sich die Frage stellt, ob sie mehr der knappen Kasse oder der Ratlosigkeit der Regie geschuldet ist. Es regnet rote Rosen, aber von Wundern ist an diesem Abend weit und breit keine Spur. Das Nichtfunktionieren von Beziehungen, das die Regie zum Hauptthema erhebt, spiegelt sich in der räumlichen Distanz der Figuren. Don José, blass und schwach gezeichnet, steht meistens so verlegen auf der Bühne herum, als hätte er sich verlaufen. Escamillo wirkt im beigefarbenen Pulli, braunen Hosen und Mokassins wie ein deutscher Spanientourist im Winter.
In diesem Stil ließe sich weiter lamentieren: über die Taverne des Schankwirts Lillas Pastia, die in Bielefeld den Charme eines billigen Nachtclubs verströmt. Über eine Carmen im Domina-Outfit, eher Produkt einer Sex-Industrie als selbstbestimmte Frau. Über das Eintreffen des Festzugs in der Stierkampfarena, den wir uns komplett im Kopf ausmalen müssen, weil nur der Chor als winkende Menge gezeigt wird. Es ist ein Trauerspiel, leider ganz anderer Natur, als die Regie es meinte.
Wenn etwas für diese Carmen spricht, dann die musikalischen Leistungen. Das Gesangsensemble, die Bielefelder Philharmoniker und die an der Produktion beteiligten Chöre versuchen mit vereinten Kräften, das öde Lehrstück zu überstrahlen. Dass dieses Kunststück gelingt, sagt bereits viel aus. Die polnische Mezzosopranistin Joanna Motulewicz feiert in der Titelpartie einen Erfolg. Von unschönen Registerwechseln, wie man sie oft in der berühmten „Habanera“ hört, ist bei dieser Sängerin nichts zu hören. Sie verbindet die Tiefen, die sie vor allem im Kartenterzett braucht, klug und gekonnt mit dramatischen Höhen, in die sie sich immer stärker hineinsteigert. Im Schlussduett lodert ihr Feuer noch einmal verzweifelt auf.
Der Kroate Nenad Cica ist nicht um die Darstellung dieses tumben Don José zu beneiden, dem außer Gewalt wenig einfällt, um seine Carmen zu bezwingen. Umso dankbarer registriert man, was sein Tenor ins Spiel bringt: leidenschaftliche Bögen in der „Blumenarie“, Schmelz und lyrische Strahlkraft, aber auch Einbrüche großer emotionaler Erschütterung. Frank Dolphin Wong gießt Escamillo einen dezenten, mithin sympathischen Hauch von Machismo in die Stimme. Er punktet mit den dunklen, markigen Registern seines sonoren Baritons. Dusica Bijelic blüht als Micaëla immer stärker auf. Nach etwas sprödem Beginn gewinnt ihr Sopran zunehmend an Wärme, wird im Zwiegespräch mit Gott schließlich so raumgreifend, als breite er schützende Flügel aus.
Der Bielefelder Opern- und Extrachor sowie die Kinder- und Jugendchöre des Theaters Bielefeld geben dem Abend stimmlich den Glanz, der ihm szenisch fehlt. Dirigent Alexander Kalajdzic hält die Massen vom Pult aus klug zusammen. Oft wählt er gemäßigte Tempi, die aber nicht behäbig wirken. Die Bielefelder Philharmoniker sind aufmerksam bei der Sache, bringen in der Ouvertüre und im Vorspiel zum letzten Akt genau das feurige Spanien-Kolorit, auf das jeder Liebhaber dieser Oper wartet. Nicht alles gelingt so blutvoll, aber dafür gibt es viele Feinheiten im Detail: beispielsweise das Zwischenspiel von Harfe und Flöte, das wie von Silberlicht erfüllt klingt.
Die vielen Nebenrollen, also die Schmuggler, Carmens Freundinnen und Don Josés Vorgesetzte, sind ansprechend besetzt. Umso ärgerlicher, dass die Regie dem rasanten Schmuggler-Quintett eine Hampelei aufnötigt, als sei es im Kasperletheater. Bevormundende Eingriffe in den Text gibt es auch. So wie der „Negerkönig“ im Kinderbuch Pipi Langstrumpf zum „Südseekönig“ umbenannt wurde, verwandelt sich die Zigeunerin („Zingara“) in Bielefeld flugs in eine schöne Frau („belle femme“). Das Publikum wird wohl für zu unmündig oder zu zart besaitet gehalten, um ihm das Z-Wort zuzumuten. Der Vorhang fällt, aber die Frage, warum eine Regie ein Stück auf die Bühne bringt, an das sie selbst nicht (mehr?) glaubt, bleibt offen.