La Bohème am Ende des 20. Jahrhunderts
Ein gläserner Verschlag auf dem Dach irgend eines Hochhauses in New York, spärlichst ausgestattet mit einem vorsintflutlichen Ofen und einer emaillierten Badewanne. Verkehrt herum aufgestellt, dient sie als Tisch und Sitzbank. Im Hintergrund qualmende Schornsteine. Ein trauriges Panorama, vor und in dem sich gleich Jonathan Larsons Musical Rent abspielen wird. Aber halt: kommt einem das nicht bekannt vor? In der Tat: vor vier Wochen sah man dieses Bild schon einmal, damals angesiedelt mitten in Paris. Für Giacomo Puccinis „La Bohème“ in der Oper Dortmund. Regie: Gil Mehmert (siehe hier). Und jetzt? In demselben Opernhaus erzählt uns derselbe Regisseur mit demselben Produktionsteam die Geschichte von Roger und Mark, von Tom und Benny - in demselben Ambiente wie vier Wochen zuvor. Aber weshalb?
Weil es in Puccinis La Bohème und Larsons Rent um exakt dasselbe Drama geht! Mit dem Unterschied, dass Larsons Version genau 100 Jahre und drei Monate jünger ist als jene von Puccini, die 1896 in Turin zur Uraufführung gelangte. Und unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen abläuft, denn bei der Larson-Uraufführung 1996 in New York sah die Welt ganz anders aus als noch vor 100 Jahren in Paris. Könnte man zumindest meinen. Ist aber nicht so. Zumindest nicht prinzipiell. Denn die Typen, die da auf dem New Yorker Dach hausen, sind ebenso gesellschaftliche Looser wie die Altvorderen aus Paris.
Keine schlechte Idee der Theatermacher in Dortmund, Puccini (die „klassische“ Oper) und Larson (das knapp dreistündige Musical) innerhalb kürzester Zeit nacheinander zu präsentieren! Denn Larson bezieht sich ausdrücklich auf La Bohème. Er macht eigentlich nichts anderes als sie zu aktualisieren. Und dies auf rundum überzeugende Weise. Vielleicht etwas zu langatmig, vor allem im ersten Teil - aber nicht minder anrührend wie das „Original“, wenn man so will. Aus dem Maler Marcello wird der Filmemacher Mark, der Dichter Rodolfo mutiert zum Gitarre spielenden Songwriter Roger. Der Philosoph Colline ist bei Larson ein arbeitsloser Uni-Prof namens Tom Collins; Schaunard, bei Puccini der Musiker, arbeitet als Drag-Künstler („Angel Dumott Schunard“). Die Namensparallelen sind unverkennbar. Natürlich gibt‘s auch Mimi und Musetta. Die eine behält ihren Namen Mimi, leidet aber nicht an Tuberkulose sondern ist drogenabhängig; die andere tritt als Maureen auf, Marks Ex-Freundin. Und da ist da noch Benny (bei Puccini der lästige Vermieter Benoît), der die Seiten gewechselt hat vom ehemaligen WG-Mitbewohner zum Immobilien-Hai, der die New Yorker Bohèmiens hinausekeln will, um mit Luxusappartements echte Knete zu verdienen. Was bei Jonathan Larson natürlich eine Rolle spielt: Aids und Schwulsein. Das war 1996 auch kaum anders vorstellbar, ist heute, ein Vierteljahrhundert später, aber womöglich nicht mehr ganz so brisant.
Egal: Larsons Stück ist gut! Ist immer noch aktuell, was gesellschaftliche Konflikte angeht. Jedenfalls lebt und fühlt man mit, wenn die fünfköpfige Musical-Band (Dirigent: Jürgen Grimm) im halb hochgefahrenen Orchestergraben loslegt, die Darstellerinnen und Darsteller mit totaler Hingabe in ihre Rollen schlüpfen, sie regelrecht ausleben - und dabei durch die Bank ganz fantastisch singen! Die können einfach alles: Soul und Rock, Black Music, Latino Sounds und Tango, Folk Song und Soft Rock!
Das tragische Ende bleibt (da macht das Musical keinen Unterschied zur Oper) niemandem erspart: Mimi stirbt. In derselben Badewanne wie vier Wochen zuvor. Mit einem Unterschied: Larsons Rent beschwört in einem großen Chorfinale die Allmacht der Liebe! Wer mag daran zweifeln?
Spannend und interessant: das Theater Dortmund bietet an zwei Termine (15. Oktober und 10. Dezember) beide Inszenierungen als Binge Watching an. Will heißen: erst die Oper, dann das Musical an einem Tag!