Glücklich ist, wer vergisst
Legendäre Namen verbinden sich mit der Strauß-Operette Eine Nacht in Venedig. Richard Tauber, Rudolf Schock, Nicolai Gedda, Erika Köth, Rita Streich und Elisabeth Schwarzkopf adelten die wirre Verkleidungs- und Verwechslungskomödie einst mit ihren Stimmen. Gleichwohl bleibt das Stück zu schwach, um aus dem Schatten der höchst erfolgreichen Fledermaus zu treten. Am Gelsenkirchener Opernhaus versucht Michael Schulz jetzt eine Neufassung.
Der Hausherr greift in seiner Regie auf die bewährte Bearbeitung von Erich Wolfgang Korngold zurück, erlaubt sich aber die Freiheit, aus dem Dreiakter eine „Operettenfantasie nach Johann Strauß“ zu kneten. Er behandelt Korngolds Fassung als Rohmasse und hebt diesem Teig allerhand unter: Songs von Paolo Conte, Musik von Nino Rota und Oscar Straus, Arien aus Verdis Don Carlos, Mozarts Zauberflöte und Vivaldis Oratorium Juditha triumphans. Bis zur Pause dümpelt das Stück trotzdem im Gondeltakt dahin.
Die Frauen, die im Originaltext oft dumm genannt werden, sind den Männern in der Dialogfassung von Michael Schulz klar überlegen. Das karnevaleske Masken- und Verwechslungsspiel verlegt er ins Edelrestaurant „Venezia“. Hier lösen sich die Grenzen zwischen Stand und Geschlecht nach und nach auf. Am Ende haben die Damen die Hosen an, während die Herren in Kleidern über die Bühne stöckeln. Ob man dieses Crossdressing vergnüglich und die Scherze über Genderwahn und Doppelwumms lustig findet, ist vermutlich Ansichtssache.
Neben den genialen Strauß-Melodien ist die Handlung ohnehin nicht so wichtig. Es genügt zu wissen, dass der „Herzog“ genannte Frauenheld Guido von Urbino sich für unwiderstehlich hält und die Frauen seinem Appetit Grenzen setzen. Schließlich ist Karneval: Da berauscht man sich am besten an den Kostümen (Renée Listerdal hat sie zu liebevoll-schrägen Charakterstudien gestaltet) und lässt Fünfe gerade sein.
Wem die Neufassung trotz Edelambiente eher schmeckt wie vom Pizza-Döner-Asia-Express, halte sich an die Musik. Die Neue Philharmonie Westfalen gibt den Melodien unter der Leitung von Giuliano Betta Schmelz und Schwung. Aus dem Graben tönt uns ein Strauß entgegen, der erstaunlich anders klingt als in der Fledermaus: oft sanft wiegend, in den Festszenen aber auch flott und stimulierend wie im Neujahrskonzert.
Dass die Nacht in Venedig nicht baden geht, hat Schulz seinem Ensemble zu verdanken, das viel Herzblut und komödiantisches Talent auf der Bühne lässt. Adam Temple-Smith gibt dem „Herzog“ ein Timbre, das zuweilen ölig schillert: ein wunderbarer vokaler Mix aus Charme und Eitelkeit. Benjamin Lee ist als Caramello auch stimmlich sein aalglatter Diener. Martin Homrich (Pappacoda) muss vom Koch- ins Clownskostüm wechseln, wodurch sein Tenor indes nicht an bebender Intensität verliert.
Die Frauen sind nicht nur im Anzug auf Vordermann: Margot Genet (Annina), Lina Hoffmann (Barbara) und Bele Kumberger (Ciboletta) verbinden klare Melodieführung und quirliges Temperament mit leuchtender Höhe. Der von Alexander Eberle einstudierte Opern- und Extrachor des Musiktheaters ist ebenfalls spielfreudig und stimmstark dabei.
Trotz Schwächen kommt die Operettenfantasie beim Premierenpublikum gut an: Es johlt und klatscht lautstark. Wir hätten nach dem Finale gerne einen ordentlichen Grappa. Danach ist die Fünf ganz gewiss eine gerade Zahl.
(Der Bericht ist am 28. November 2023 im Westfälischen Anzeiger erschienen.)