Der Mehltau des Älterwerdens
Dies ist eine Oper im Konjunktiv, eine psychologische Tiefenbohrung in ein Künstlerleben. Ihre Hauptfigur ist der Schriftsteller Osbert Brydon, der nach Jahrzehnten in Europa nach New York zurückkehrt, um sein Elternhaus abzuwickeln. Im Herbst seines Lebens mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert, beginnt er sich bohrende Fragen zu stellen: Wer wäre ich geworden, wenn ich Amerika nicht verlassen hätte? Hätte ich ein ganz anderes Leben führen sollen?
Mit diesem Stoff befasst sich der in Düsseldorf und Paris lebende Komponist Manfred Trojahn in seiner neunten Oper, einem Kammerspiel in sechs Szenen, das er frei nach der Erzählung „The Jolly Corner“ von Henry James schuf. Septembersonate nennt er das Werk, das jetzt in der Regie von Johannes Erath in Düsseldorf uraufgeführt wurde.
Ein treffender Titel, denn über Osberts gespenstischer Selbstbegegnung mit seinem nichtgelebten Ich liegt der Mehltau des Älterwerdens: ein ruhiger Puls, den das Regieteam gleich zu Beginn hörbar macht, später auch in den Umbaupausen. Dumpf tönt der Schlag einer großen Trommel, die nahezu regelmäßige Viertelnoten spielt, in den Zuschauerraum. Es handelt sich um einen Auszug aus Trojahns Stück „Arcadischer Torso“, den die Regie einspielen lässt. Die Empfindung, in sich selbst hinein zu horchen, kann das Publikum auf diese Weise mit der Hauptfigur teilen.
Indessen führt Osberts quälerische Selbstbefragung nicht nur zu einer Krise, sondern auch zu einer Begegnung mit seinem alternativen Selbst, genannt Osbert II. In der Düsseldorfer Uraufführung trägt er eine Maske mit großen Eselsohren: eine Anspielung auf Shakespeares Sommernachtstraum? Was Osbert bei der Rückkehr in sein Elternhaus erlebt, gleicht freilich eher einem Albtraum.
Gezeigt wird er in einem Bühnenraum, in dem das Licht herrschaftliche Freitreppen aus dem Dunkel schneidet. Sie streben in elegantem Weiß in die Höhe, führen aber immer wieder ins Nichts, wenn sie sich teilen und drehen. Ein weißer Rahmen aus Neonröhren zieht sich zwischen den Szenen auf und zu wie der Verschluss einer Kamera. Die suggestive Sogkraft des Bühnenbilds wird durch die ästhetischen Videoeinspielungen von Bibi Abel verstärkt (die absurden Treppen von M.C. Escher lassen grüßen).
So interessant sich die Gedankenexperimente im Konjunktiv lesen, haben sie auf der Bühne doch Mühe, Leben zu gewinnen. Manfred Trojahns Versuch, die Leerstellen in James‘ Text zu füllen und seinen Figuren Blut zu geben, wirkt nur teilweise geglückt. Letztlich dreht sich der Protagonist stark um sich selbst, während Brydons Jugendliebe Ellice Staverton und die Haushälterin Mrs. Maldoon Staffage bleiben. Dem Psychodrama eine Handlung zuzuordnen, fällt schwer. Oft ist nicht recht ersichtlich, an welcher Stelle im Stück man sich gerade befindet. Wie in manchen Träumen, scheint alles einer unwirklichen, zuweilen lähmenden Gleichzeitigkeit zu unterliegen.
Der Gesang bedient einen Konversationston, der womöglich nicht zufällig an „Ariadne auf Naxos“ erinnert. Trojahn, der viele Werke von Richard Strauss verehrt, hat in seine neue Partitur Zitate aus dessen „Tod und Verklärung“ und aus „Arabella“ eingewoben. Auch zu Maurice Ravel gibt es vielfältige Bezüge; Kenner werden zudem ein Zitat aus Schönbergs „Pierrot Lunaire“ erkennen. Große Intervallsprünge fordert Trojahn den Stimmen nicht ab: Sie bewegen sich eher in kleinen Schritten voran, sind wie eingewoben in das Netz des kleinen Orchesters.
Lediglich 15 Instrumente verlangt die Partitur: Ein Quintett von Holzbläsern, ein Streicherseptett, Klavier, Harfe, Celesta und mehrere Schlaginstrumente. Weil Trojahn auf Geigen verzichtet, stattdessen die Bratschen und Celli in extreme Höhen schickt, entsteht ein gläserner Klang, der zuweilen angestrengt wirkt, der dunkel grundiert ist durch Instrumente wie die Bassklarinette.
Vitali Alekseenok, designierter Chefdirigent der Rheinoper, leitet 15 Musikerinnen und Musiker der Düsseldorfer Symphoniker mit einem feinen Gefühl für Klangfarben. Voller Umsicht geht er mit den rhythmischen Strukturen und schnellen Figurationen dieser Musik um: Er schafft eine Atmosphäre, die unbestimmt zwischen Traum und Realität schwebt. Das Tempo bleibt weitgehend langsam, manchmal lastend. Vielleicht ist es die Achillesferse dieser neuen Oper, dass sie ihre stärksten Momente abseits des Gesangs erreicht. Wo die Musik allein das Wort hat, wo sie vom Konversationston loskommt, fesselt sie am meisten.
Der Bariton Holger Falk, der bereits in Trojahns Opern „Enrico“ und „Ein Brief“ die Hauptrollen übernommen hat, steigert sich als Osbert immer stärker in den Tonfall der Selbstanklage hinein. Durch die Lücken seiner oft abgerissenen Sätze schimmert Verzweiflung: Falk zeichnet die beklemmende Studie eines Egomanen, der sich selbst nicht entkommt.
Der Sopran von Juliane Banse (Ellice Staverton) erleuchtet diese Düsternis. Die Sängerin findet leidenschaftliche und mitfühlende Töne: Wenn ihre Figur neben Osbert blass bleibt, liegt das an der Anlage des Stücks, nicht an ihrer künstlerischen Leistung. Zum Gesangsquartett gehören noch Roman Hoza (Osbert II) und Susan Maclean (Mrs Muldoon): Alle vier sind mit einer Souveränität dabei, als hätten sie bereits mehrere Aufführungen hinter sich. Das ist beeindruckend, weil völlig abseits von Routine.
Die Uraufführung erhält viel Beifall, dehnt die eigentlich kompakten 90 Minuten aber gefühlt in die Länge. Manfred Trojahn hat sich eine kleine Ensemblebesetzung in einem großen Haus gewünscht. Die Rheinoper hat dem entsprochen, Regie und Technik haben nahezu alle Register gezogen. Ob das Kammerspiel auf einer kleineren Bühne nicht doch unmittelbarer zu uns sprechen würde? Vielleicht werden andere Aufführungen das beantworten.