Bunt-Banales aus dem Märchenland
Der Prinz kommt direkt ins Kinderzimmer. Steigt aus einem Wandschrank und nimmt Platz an dem Schreibtisch, an dem Ella, ein Pummelchen im Zopfpullover der Größe XXL, eben noch ihre Hausaufgaben machte. Sie hat sich mit ihren Träumen und Stofftieren in das Hochbett zurückgezogen, das die Gefolgsleute des Prinzen jetzt umtanzen: in mittelalterlichen Kettenhemden, als seien sie Monty Pythons Blödel-Film „Die Ritter der Kokosnuss“ entstiegen.
So beginnt in der Oper Wuppertal ein Aschenputtel-Musical, das 1975 zunächst im Fernsehen Erfolg hatte (mit Julie Andrews in der Hauptrolle), später auf Londoner Bühnen Fuß fasste und 2013 am Broadway herauskam, mit neuen Dialogen von Douglas Carter Bean. Cinderella heißt dieser Zweiakter, für den der 1902 geborene US-Amerikaner Richard Rogers die Musik und der Musical-Produzent und Liedtexter Oscar Hammerstein II. die Gesangstexte schrieb. In Wuppertal ist eine deutsche Fassung des Berliner Autors, Übersetzers und Arrangeurs Jens Luckwaldt zu sehen, der sich seit 2014 verstärkt seiner Leidenschaft für Musical und Oper widmet.
Mit dem Konzept, die Märchenwelt in ein gewöhnliches Kinderzimmer hineinströmen zu lassen, wie es sie in Wuppertal womöglich hundertfach gibt, legt sich die Regie von Christian Thausing weitgehend fest. Dieser engen Welt können die Figuren nur durch Wandschränke und Fenster entkommen. Die einzige Tür im Raum spielt fast keine Rolle. Um in den ganz großen Traum abzuheben, muss es dann schon ein Fesselballon sein: Er holt Ella, wie Cinderella in dieser Fassung verkürzt heißt, zum festlichen Ball im Schloss ab.
Das Produktionsteam scheint vor allem Wuppertals Jugend als Zielgruppe ins Auge gefasst zu haben. Die durch das Musical transportierten Botschaften sind pädagogisch wertvoll, freilich auch von überwältigender Schlichtheit. Dass alles gut wird, wenn man sich selbst treu bleibt und an seine Träume glaubt, lautet eine davon. Dass Freundlichkeit über Gehässigkeit siegt, die andere. Damit derlei Plattitüden besser hinunterrutschen, gibt es weit mehr als nur ein „Löffelchen Zucker“ wie bei Mary Poppins. Die Ausleuchtung ist bonbonfarben, die Kostüme sind karnevalesk überzeichnet, die Requisiten scheinen putzigen Bilderbüchern entnommen. Wer hätte gedacht, dass Wuppertal so nahe an Disneyland liegt?
So herzallerliebst es zugeht, so munter wird auf der Bühne gesungen und getanzt. Das Ensemble bewegt sich bewundernswert engagiert durch die seichte Materie, allen voran Susann Maura Ketley als naiv-verträumte Ella, deren Stimme die Musicalausbildung an der Folkwang Universität der Künste anzuhören ist. Opernstimmen mit dramatischer Durchschlagskraft wären an diesem Abend fehl am Platz. Alle Darsteller singen mit Verstärkung durch ein angeklebtes Mikroport.
Dem sichtlichen Bemühen, dem Publikum etwas zu bieten, stehen Figuren entgegen, die wie Abziehbilder aus dem Poesiealbum wirken. Am ehesten ragt noch die „Madame“ genannte Stiefmutter heraus, von der gebürtigen Wuppertalerin Stefanie Smailes lustvoll überkandidelt und mit kreischender Lache gespielt. Ein bisschen Kontur in die banalen Charaktere bringt auch Mark Bowman-Hester, als Kammerdiener Sebastian einerseits servile Hofschranze, andererseits strikter Reaktionär.
Zur Rehabilitierung der Musik des New Yorkers Richard Rogers, immerhin mehrfacher Oscar- und Pulitzer-Preisträger, trägt diese Produktion leider auch nicht viel bei. Unter der Leitung von Johannes Witt legt das Sinfonieorchester Wuppertal zwar im munteren Off-Beat los, bleibt dann aber bei einem recht pauschalen Sound, der schon bald nicht viel mehr ist als ein zuckriger Boden für den Rest dieser Musical-Torte. Wer zweieinhalb Stunden davon isst und das Theater ohne flaues Gefühl im Magen verlässt, schafft es vermutlich auch, an Weihnachten alle drei Teile von „Sissi“ zu schauen, ohne mit der Wimper zu zucken.