Heldin, Hexe, Heilige
Ein junges Mädchen aus der französischen Provinz schreibt europäische Geschichte in einer Zeit heftiger politischer Auseinandersetzungen. Ihr Name: Jeanne d‘Arc. Engelsgleiche Stimmen aus dem Himmel sind es, von denen Jeanne ihren Auftrag empfängt: das unheilvoll in sich zerstrittene Frankreich wieder zu einen und den Einfluss der Engländer einzudämmen. Das Ergebnis ist bekannt: zunächst als mutige Heldin gefeiert, geht Jeannes kurzes Leben gewaltsam auf dem Marktplatz von Rouen in der Normandie zu Ende. Auf dem Scheiterhaufen, den ihr die kirchliche Inquisition errichtet hat. Eine Hexe sei sie gewesen, im Pakt mit dem Teufel! Dass dieses Urteil schon wenig später aufgehoben und Jeanne rehabiliert wurde, macht das Bauernmädchen aus dem lothringischen Domrémy später zu einer Nationalheldin der Franzosen, letztlich zu einer als heilig Verehrten.
Arthur Honegger hat sich von dieser bewegenden Geschichte aus der Zeit des Hundertjährigen Krieges zu seinem „dramatischen Oratorium“ Jeanne d‘Arc au bûcher inspirieren lassen. 1938 in konzertanter Form uraufgeführt, vier Jahre später dann szenisch realisiert, hat es bis heute an Wirkung nichts eingebüßt, im Gegenteil. Das Opernensemble des Theaters Bielefeld jedenfalls ließ zusammen mit den Bielefelder Philharmonikern keinen Zweifel daran, dass Honegger hier ein ganz starkes Stück gelungen ist. Musikalisch wie dramaturgisch. Wobei das Libretto von Paul Claudel schon den Keim all jener Klänge in sich zu tragen scheint, die Honegger dann aufs Notenpapier brachte. Dichter und Komponist als symbiotische Einheit also. Oder in den Worten des Komponisten: „...die harmonische Synthese zweier Aspekte desselben Gedankens.“
Es ist nicht die chronologisch exakte Nacherzählung der Geschehnisse von einst, die Honegger und Claudel hier liefern. Vielmehr bilden die Stunden unmittelbar vor der Vollstreckung des Todesurteils den Ausgangspunkt für Rückblenden und Reflexionen. Jeanne steht einsam da, bestimmte Szenen aus ihrem Leben laufen wie ein Film vor ihrem geistigen Auge ab. In der Bielefelder Rudolf-Oetker-Halle ist es die Schauspielerin Johanna Wokalek, die ganz konzentriert, mit wohldosierter Gestik und klarer, gefasster Sprache das Mädchen aus Lothringen personifiziert. Opernchor, Extrachor und der Kinderchor „JunOs“ kommentieren, Bruder Dominik (John Wesley Zielmann) zitiert aus einem imaginären Buch, wie es zu Jeannes Ende gekommen war. Historische Figuren treten auf: kirchliche Würdenträger, weltliche Potentaten, daneben auch das „gemeine Volk“. Mitunter trägt Honeggers Oratorium durchaus satirische Züge, etwa in der Gerichtsszene, wenn blökende Schafe und ein stattliches Schwein in bischöflichem Ornat auftreten. Oder es fungiert als politische Fabel, etwa dort, wo taktierendes Geschachere als Kartenspiel präsentiert wird.
Die Bielefelder Inszenierung, von Wolfgang Nägele eingerichtet, versteht sich als „Lichtspieloper“. In der Tat spielt Licht eine bedeutende Rolle, aber auch die behutsame Bewegung der Protagonisten im Raum. Und dann ist da noch Reinhard Kleist, der die neunzig Minuten der Aufführung durch seine auf einer riesigen Projektionsfläche sichtbar gemachten Live-Malerei bereichert - mehr illustrierend denn kommentierend.
Die wesentlichen Akteure aber sind die Chöre und die Bielefelder Philharmoniker! Alexander Kalajdzic entfaltet mit ihnen eine Musik von unglaublicher Sogwirkung und enormer Energie.