Übrigens …

Eugen Onegin im Duesseldorf Oper

Gefangen im Tabellengitter

Da sehnen sie sich nach Leben, sind aber gefangen in einer dreidimensionalen Excel-Tabelle. Tatjana und Olga, Onegin und Lenski bewegen sich an der Rheinoper Düsseldorf in einer abstrakten Konstruktion aus Holz, in einem Bühnenkasten mit einer Mauer aus schmalen Rechtecks-Elementen, die an das bekannte Tabellenkalkulationsprogramm erinnern. Weil die Elemente sich gegeneinander verschieben lassen, bilden sie mal Stufen, auf denen die Hauptfiguren von oben in die Szene hinabsteigen, mal ein Podest, auf dem das Duell zwischen Onegin und Lenski stattfindet. Oft schließen sie sich zur kompakten Wand, die den Hauptfiguren den Weg versperrt, sogar bedrohlich gegen sie vorrückt, den Spielraum dramatisch verengend.

Bis an die Schmerzgrenze reduziert begegnet uns Peter Tschaikowskys Eugen Onegin in der Neufassung von Michael Thalheimer (Regie), für die Henrik Ahr diese Bühne entworfen hat. Wer die Arbeiten des Puristen Thalheimer kennt, kann davon nicht überrascht sein. Gleichwohl macht eine Gruppe hartnäckiger Buhrufer am Ende der Premiere ihrem Unmut Luft.

Mit dem Versuch, sich im kargen Bühnenkonstrukt aufs Wesentliche zu konzentrieren, handelt sich Thalheimer im Fall von Eugen Onegin ein Problem ein: Sängerinnen und Sänger können sich trotz hoher darstellerischer Fähigkeiten nicht so auf sprachlichen Ausdruck, Mimik und Gestik konzentrieren wie ein Schauspielensemble. In dieser Neuproduktion tasten sie sich die Figuren ständig an der Wand entlang, als müssten sie Halt suchen. Sie drehen sich auch viel um sich selbst (und um ihr Innenleben).

So modern das einerseits erscheint, so ermüdend wirkt auf Dauer das Bewegungsvokabular, das bald überhandnimmt. Erregungszustände spiegeln sich durch ständiges an den Kopf Fassen, durch rastloses Hin- und Herlaufen. In der ohnehin sehr langen Briefszene der Tatjana kann die Sopranistin Ekaterina Sannikova einem beinahe leidtun. Wie soll sie den Leerraum füllen, allein und ohne Requisiten? Die Sängerin tritt aus dem Bühnenkasten heraus, fällt in ihrer verliebten Schwärmerei gewissermaßen aus dem Rahmen. Es würde freilich nicht verwundern, wenn ihr vom unentwegten Rennen und Taumeln schwindelig geworden wäre.

Gleichwohl gibt es Schönes und Interessantes zu sehen: zum Beispiel die Verdoppelung und Verdreifachung der Figuren durch Schatten, die auf unterschiedliche Persönlichkeitsanteile verweisen, und Andeutungen auf eine mögliche Homosexualität des (Anti-)Helden Onegin, dessen Flirt mit Olga so als Ablenkungsmanöver erscheint. Durch den hohen Abstraktionsgrad empfiehlt sich die Produktion aber nicht für Erstbesucher, die diese Oper kennenlernen möchten.

Das ist schade, weil sie musikalisch sehr gelungen ist. Vitali Alekseenok, designierter Chefdirigent der Deutschen Oper am Rhein, entwirft Tschaikowskys „lyrische Szenen“ mit feinem kammermusikalischem Strich und unterstützt die Personenzeichnung nach Kräften. Wie ein zarter Schleier legt sich der sehnsuchtsvoll-melancholische Tonfall, den die Düsseldorfer Symphoniker unter seiner Leitung anschlagen, über das gesamte Bühnengeschehen. Die Holzbläser schimmern fragil, die Streicher erreichen in ihren besten Momenten einen seidigen Glanz.

Alekseenok hält die Chorszenen zusammen, fängt auch den Frauenchor wieder ein, als dieser zu enteilen droht. Das sind massive Tutti-Momente, aber Alekseenok wahrt den Gestus der Eleganz, sei es in den bäuerlichen Tänzen im zweiten Akt oder in den St. Petersburger Ballszenen. Wenn Tatjana ihren glühenden Liebesbrief an Onegin abschickt, braust das Orchester ahnungsvoll auf.

Ekaterina Sannikova gibt sich ganz an diese Partie hin, verkörpert zunächst die weltfremd-schwärmerische Tatjana, dann die mondäne, zur Fürstin gereifte Frau. Die Ukrainerin hat neben Gesang auch Schauspiel studiert, was man ihr auf der Bühne anmerkt. Die Längen des Musiktheaters vermag sie trotzdem nicht im Alleingang auszufüllen. Das kann aber kein Vorwurf an die Künstlerin sein, zumal sie uns stimmlich viel Glut gönnt. Zart-jugendliches Timbre bleibt bei ihr eher angedeutet, doch facht sie die dramatischen Qualitäten ihres Soprans zu immer höheren Flammen an.

Bogdan Baciu gelingt das Kunststück, Onegin zwei Akte lang stimmlich zwischen Hochmut und Bitterkeit anzusiedeln, ohne seinen Bariton steif klingen zu lassen. Im Schlussakt dann die Wende: Da befreit Baciu sich aus der emotionalen Enge, wirbt mit Tönen der Leidenschaft und der Verzweiflung um eine Frau, für die dieses Bekenntnis um viele Jahre zu spät kommt. Einen Beifallsorkan erntet der Tenor Ovidiu Purcel, der als Lenski hinreißenden Schmelz mit dunkler Todesahnung verbindet. Wenn dieser Sänger hohe Töne ins Piano zurückgleiten lässt, klingt das verletzlich, zutiefst berührend – und erstaunlich wenig riskant. Bogdan Talos wird für seine Arie als Fürst Gremin sehr für seinen sonoren Bass gefeiert.

Wenn die Nebenpartien nicht ganz auf diesem Niveau mithalten, geht das gleichfalls eher zulasten der Regie als der Sängerinnen. Ramona Zaharia findet für die Lebenslust von Tatjanas Schwester Olga zwar den überzeugenden vokalen Ausdruck, aber was sie dahinter verbirgt, kommt am Premierenabend nicht über die Rampe. Die Figuren der Amme Filipjewna (Ulrike Helzel) und der Gutsbesitzern Larina (Katarzyna Kuncio) – man bedauert es für die engagierten Sängerinnen – bleiben nahezu ohne Kontur und Hintergrund. Dieser Eugen Onegin gehört gewiss nicht zu den stärksten Arbeiten von Michael Thalheimer. Was, im Umkehrschluss, auch viel Gutes über ihn sagt.