Am Ende siegt die Liebe
Léontine, eine junge Witwe: die Jahre ihre Ehe scheinen wenig erfreulich gewesen zu sein und liegen wie ein Schatten auf ihr und vor allem auf ihrem zukünftigen Liebesleben. Denn darauf verschwendet Léontine erst einmal keinen Gedanken, leidet lieber an der gemachten Erfahrung und zieht sich zurück. Dies der Ausgangspunkt der Kammeroper L‘amant anonyme des Komponisten Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges, 1739 (oder 1745? - man weiß es nicht so genau!) im französischen Überseegebiet Guadeloupe geboren, der seinen Lebensmittelpunkt 1749 nach Paris verlegte. Dort stieß er unter anderem auf die Schriftstellerin Stéphanie-Félicité de Genlis - woraus in Zusammenarbeit mit François-Georges Fouques Deshayes das Libretto zu L‘amant anonyme entstand. Eine erste und wohl bislang auch einzige Aufführung der Oper auf europäischem Boden fand 1780 in privatem Kreis statt im Haus der Tante der Schriftstellerin, Madame de Montesson.
Die Geschichte ist eigentlich recht simpel: die unantastbar scheinende Léontine wird begehrt von Valcour, ohne dass dieser seine Gefühle direkt zum Ausdruck zu bringen in der Lage ist. Als „anonymer Liebhaber“ macht er seiner Angebeteten Geschenke, schreibt ihr ellenlange Briefe, lässt sich von seinem Freund Ophémon helfen, die Dame doch noch „herumzukriegen“ - was am Ende natürlich auch gelingt. Vielleicht sind es auch Jeannette und Colin, ein junges Paar, das (quasi als Nebenrolle) zeigt, dass Liebe funktioniert: sie setzen ihre Heiratspläne in die Tat um und motivieren so die in amourösen Angelegenheiten inzwischen aufgetaute Léontine und den mutig gewordenen Valcour, dies ebenso zu tun!
Joseph Bologne schreibt dazu eine klassische Musik, auf Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn Bezug nehmend: Arien, Ensembles, Intermezzi für das mit Streichern, Oboen, Hörnern, Flöten und Fagott „normal“ besetzten Orchesters. Das alles ist sehr elegant und spielfreudig angelegt, durchaus einer Wiederentdeckung wert. Erst 2016 erfuhr L‘amant anonyme seine Wiederaufführung beim Color of Music Festival in Charleston (South Carolina, USA), angestoßen von dem amerikanischen Dirigenten Marlon Daniel, der brauchbares Notenmaterial erarbeitet hatte. Dann war es James Conlon (von 1989 bis 2002 Generalmusikdirektor der Stadt Köln), der Bolognes Bühnenwerk 2020 in Los Angeles dirigierte.
Nun widmet sich das Essener Aalto-Theater der in Musik gegossenen Geschichte letztlich doch noch glückender Liebe! Das Regieteam (Zsofia Geréb und Alvaro Schoeck) befragt sie danach, ob und was sie uns heute im 21. Jahrhundert noch etwas zu sagen hat. Schüchternheit, Ängste, Sehnsüchte, negative Erfahrungen mit Beziehungen… all das ist ja überzeitlich und generationenübergreifend! Ein Brückenschlag ins Hier und Jetzt, ins 21. Jahrhundert, gelingt, indem dem Original eine zweite Ebene eingeschoben wird und die den Titel Unerwartete Wendungen bekommt. Die Essener Theatermacher sind hinausgegangen in die urbane Gesellschaft, in die Stadt. Dort fanden sie Menschen mit ähnlichen Erfahrungen wie denen des klassischen Originals: je einen Chor aus Seniorinnen und jungen Leuten, „Spoken Word Artists“, die die Kommunikationsweise von Léontine und Valcour in die Gegenwart transponieren, Tänzer*innen, die anstelle der klassischen Ballett-Einlagen Tanzstile wie Hip Hop, Breaking, Waacking, Popping Boogaloo auf die Bühne bringen - eine interessante, spannende, durchaus auch konfrontativ wirkende Mischung! Dazu neu „erfundene“ Klänge des in Düsseldorf lebenden Komponisten SJ Hanke (Jahrgang 1984). Sie fügen sich nahtlos ein in das originale Material von Bologne - gar nicht so sehr als dezidierter Kontrapunkt, vielmehr als konsequent an Bologne anknüpfende klangliche Facette.
Auch optisch werden zwei verschiedene Welten sichtbar, die sich inhaltlich aber dicht berühren: auf der Drehbühne steht ein klassizistischer Gebäudekomplex mit vier Räumen, die sich abwechselnd öffnen (hier nutzt man ein Bühnenbild von Frank Philipp Schlößmann, das dieser für eine Produktion von Mozarts La finta giardiniera entworfen hatte). Die Kostüme sind einerseits klar dem Rokoko verpflichtet, andererseits ganz „heutig“ (die Tänzer*innen, die beiden Chöre…). Eine überzeugend angelegte Verbindung, noch zusätzlich bereichert durch ein (verliebtes?) Paar, das anfangs in der ersten Reihe des Theatersaals sitzt, dann ins Bühnengeschehen gerät und dieses befördert.
Musikalisch zeigt sich die Inszenierung ohn‘ Fehl und Tadel: Wolfram-Maria Märtig dirigiert die Essener Philharmoniker transparent, schwungvoll, stilsicher. Ebenso wird auch gesungen: Lisa Wittig (Léontine), George Vîrban (Valcour), Tobias Greenhalgh (Ophémon), Natalia Labourdette (Jeannette), Aljoscha Lennert (Colin) Christina Clark und Rainer Maria Röhr (das Zuschauerpaar) - sie agieren allesamt typengerecht und mit großem Engagement.
Ob sich Joseph Bolognes L‘amant anonyme auf den Spielplänen etablieren wird, sei dahingestellt. Für sich allein genommen, liefert das Stück zu wenig Substanz, gewinnt aber in Essen dank seiner intelligenten Öffnung hinein ins 21. Jahrhundert.