Am Niederrhein gestrandet
Es ist ein Stück über große Erwartungen, Hoffnung auf Glanz, in dem man sich sonnen kann. Aber in die Vorfreude mischen sich stetig Rückschläge. Ganz lebensecht also ist Gioachino Rossinis Reise nach Reims - seine letzte italienischsprachige Oper. Denn wer von uns kennt solche Situationen nicht. Bei Rossini stranden Reisende, die zur Krönung Karls des X. nach Reims reisen wollen, in einem Gasthof, kommen von dort aber aufgrund vieler Missgeschicke nicht weiter. Rossini garniert diese Situation mit allerlei Liebeshändeln, Eifersüchteleien und individuellen Eitelkeiten.
Die historische Situation lässt uns natürlich heute völlig kalt. Deshalb hat sich Jan Eßinger am Theater Krefeld/Mönchengladbach diese Rahmenbedingungen ausgedacht: Irgendwo am Niederrhein wird eine historische Kutsche ausgegraben, die auf dem Weg nach Reims war. Und welch‘ Wunder: Deren Passagiere leben noch! Wie kann man ihnen helfen, Reims doch noch rechtzeitig zu erreichen? Zufällig hat ein Brain-Trust in der Nähe eine Zeitmaschine entwickelt. Das ist doch absolut praktisch. Warum es dann doch nicht so klappt, wie es gedacht ist, davon erzählt Die Reise nach Reims von Jan Eßinger. Eigentlich ist es ein zündendes Konzept, doch Eßinger verliert es leider im Laufe des Abends ein wenig aus den Augen. Auf der Bühne, die Benita Roth als Grabungsfeld mit Flatterband und Plastikpavillon gestaltet, begegnen sich Menschen aus völlig verschiedenen Welten. Diese Kontraste hätte Eßinger deutlich mehr schärfen und zuspitzen können. Dafür gibt er aber auf jede der vielen Personen auf der Bühne acht, verleiht ihnen durch Gesten und Bewegungen Individualität. Das ist einfach eine Augenweide. Abstriche gibt es aber beim Dreh- und Angelpunkt dieser Oper: Das sind Rossinis Ensembles, die er in der Reise nach Reims hemmungslos auf die Spitze treibt. Hier singt das Personal das Gleiche und denkt ganz Anders oder eben umgekehrt. Das kann in hysterische Übertreibungen überkochen oder in langsamer Rationalität ausklingen. Gerade dort fällt Eßinger oft nicht mehr ein als bloßes Aufreihen vorn am Bühnenrand mit uniformen Bewegungen. Dennoch gelingt ihm insgesamt ein sehr unterhaltsamer Abend, der eine Lanze bricht für Rossinis doch immer noch eher selten gespieltes Werk.
Rossinis Reise nach Reims ist für das Personal ein vokales Teufelswerk voller Fallstricke. Denn hier kommt es auf jede noch so kleine Rolle an - in den Solostellen genauso wie in den Ensembles. Das ist höllisch, denn ein perfektes Miteinander ist Voraussetzung für‘s Gelingen. Und das klappt ganz hervorragend in Krefeld. Es ist erstaunlich, wie es dem Haus gelingt, ohne viele Gäste diesen Berg zu erklimmen. Das ist ganz großes Kino. Und deshalb verbietet dieser Abend auch Worte zu einzelnen Akteur*innen. Nur gemeinsam kann dieses Werk gestemmt werden. Theater:pur gratuliert Janet Bartolova, Miha Brkinjac, Rafael Bruck, Hayk Deinyan, George Gamal, Gereon Grundmann, Jeannette Wernecke, Patrick Kabongo, Lisa Kaltenmeier, Kejti Karaj, Gabriela Kuhn, Anna Lautwein, Woongyi Lee, Arthur Meunier, Sofia Poulopoulou, Kaischan Scholybajew, Susanne Seefing, Irakli Silagadze, Matthias Wippich und Sophie Witte. Das war ganz großartig und eine Demonstration dessen, was das gut aufeinander eingespielte Ensemble eines „ganz normalen“ Stadttheaters vermag.
Giovanni Conti leitet die Niederrheinischen Sinfoniker und trumpft dabei groß auf.Bei Rossini aber liegt die Wirkung oft im kleinen, feinen Detail. Gerade da arbeitet er Gefühle heraus und setzt auch ironische Spitzen. Davon hätten Conti und seine Musiker*innen gern etwas mehr zeigen können. Dem riesengroßen Premierenbeifall tat das keinen Abbruch.