Es gibt kein richtiges Leben im falschen (Adorno)
Die letzte Oper des überraschend früh verstorbenen belgischen Komponisten Wim Henderickx (1962-2022) wurde in Bielefeld bei der deutschen Erstaufführung mit großem Beifall bedacht. Da setzt schon des Rezensenten Nachdenklichkeit ein. Der tongewaltige Schlussakkord war noch nicht ganz verklungen, der Vorhang noch nicht ganz gefallen, da setzte schon der Beifall ein. Eigentlich hatte das Publikum weder sich noch den Akteuren Gelegenheit zur Erholung aus der Konzentration auf das Gesehene und Gehörte gegönnt, da wurde schon geklatscht. Warum? Vielleicht, weil die Diskussion um jüdisches Leben bzw. Sterben im Mittelalter so gefährlich nah an der politischen Aktualität war?
Vigdis Adelaïs (Dusica Bijelic) ist die Tochter des wohlhabenden Normannen Gudbrandr (Yoshiaki Kimura) und dessen Frau Lutgardis (Marta Wryk) aus Rouen. Ihr nordischer Vorname ist eine Kompilation aus Vig, gleichbedeutend mit Schlacht oder Kampf und Dis, was Jungfrau, Seherin oder Schwester bedeutet. Adelaïs wiederum weist auf adelige Herkunft hin. Und Lutgardis ist eine flämische Mystikerin um 1200 nach Christus. Die Szene setzt ein im Jahr 1070. Vigdis wird getauft. Ihr Vater ist mit dem Umgang und Verhalten der kirchlichen Würdenträger überhaupt nicht einverstanden, wie sich in der nächsten Szene zeigt, in der es um den Gang Heinrichs IV. nach Canossa geht. Gudbrandr ist für Frieden zwischen den Religionen, also zwischen den Christen, Juden und Muslimen. Damit ist der politische Ton gesetzt. Lutgardis wiederum verteidigt den Papst, schließlich haben die Juden Christus ans Kreuz genagelt. Für Gudbrandr heißt Toleranz natürlich nicht, dass interkonfessionell geheiratet werden kann. Da sei Gott vor. Oder letzten Endes die elterliche Gewalt. Vigdis fordert also ihren Vater heraus, indem sie ein Verhältnis mit dem Juden David (Todd Boyce) beginnt und alsbald mit ihm durchbrennt zu seinen Eltern nach Narbonne. Zweifel an ihrer Entscheidung begleiten sie ebenso wie vom Vater beauftragte Häscher. Aber David versteht es, sie zu beruhigen. Und zunächst führen sie in Narbonne ein „richtiges“ Familienleben, nachdem sie nach jüdischem Ritus in die Gemeinde aufgenommen wurde. Sie nimmt den Namen Sarah Hamoutal an. Aber im Grunde ist ihr klar, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt. Denn aus Narbonne muss das Paar fliehen, diesmal nach Moniou, weil ihr wieder einmal Schergen des Vaters auf der Spur sind. Die Idylle dort wird zerstört, als Kreuzritter auf dem Weg nach Jerusalem das Dorf niederbrennen, David töten und ihre Kinder Yaakov und Justa entführen. Weil Sarah sich als Christin zu erkennen gibt, überlebt sie. Fortan weiß sie nicht mehr, ob sie Christin oder Jüdin ist. Wild entschlossen, sich ihre Kinder zurückzuholen, macht sie sich auf den mühsamen Weg nach Jerusalem. Denn dort, so hat man ihr gesagt, wird sie sie finden. Sie bekommt zwar einen Brief, der ihr in und für jüdische Niederlassungen Schutz und Hilfe gewährt, aber je weiter südlicher sie kommt, desto unsicherer ist ihre Lage. In Fustat, damals eine kleine Stadt vor den Toren Kairos, findet sie vorübergehend Ruhe, heiratet zum zweiten Mal, bekommt einen Sohn. Doch kaum erfährt sie, dass ihre Kinder in der Obhut ihrer Eltern sein sollen, macht sie sich auf den Heimweg. Doch dort kommt sie nie an. Sie stirbt in Moniou. Soweit ein Leben voller Gewalt, mehr Vig als Dis. Erheblich mehr.
Das macht sich auch musikalisch bemerkbar. Wim Henderickx hat zusätzlich zum großen Orchester drei Schlagzeuger sowie Duduk, Kanun und Oud eingesetzt. Als Komponist der Gegenwart hat er natürlich auch elektronische Elemente verwendet. Das alles erzeugt gelegentlich wunderbar schwebende Töne, aber auch Schlachtenlärm at it’s best. Gerade die zarten Instrumente erzeugen Momente hoher Lyrik z: B. in der Taufszene - leider zu selten. Dann wieder verkünden Dissonanzen nahendes Unheil, die außer Schlachtenlärm auch z.B. einen Scheiterhaufen illustrieren. Kurzum - nicht nur Weltmusik sondern auch Musik der Welt hat die Dirigentin dieses Abends - Kapellmeisterin und Studienleiterin Anne Hinrichsen - in bewundernswerter Weise aufgeführt. Die weiß Gott komplizierte Partitur hatte sie sehr gut im Griff.
Für die Sängerinnen und Sänger war der Abend nicht unbedingt ein Fest. Zu lange und zu oft mussten sie mit nur wenigen Abweichungen nach unten oder oben auf einer Tonhöhe singen. Aber Dusica Bijelic und Todd Boyce als David bzw. in weiteren Rollen als Schiffseigner, Schmuckhändler und Kommandant konnten ihre Stimmen durchaus zur Geltung bringen. Das Bühnenbild bediente mit seinen hohen grauen Wänden und nur wenigen Durchlässen die Vorstellung der engen Welt des Mittelalters - ideologisch wie praktisch. Zwingend zu den grauen Wänden entstand eine Lichtregie, die diese dunkle Zeit des Mittelalters in genau diesem Licht beließ. Ein Geniestreich der Regie war die Einführung eines szenischen Alter ego zu Vigdis, im Programmheft Black Hamoutal genannt. Zu Anfang als tatsächlich schwarze Frau, also schwarz gekleidet, ist sie immer in der Nähe oder um Vigdis herum und kommentiert vor allem in den Traumszenen ihre jeweiligen Stimmungen und Haltungen. Doch während Vigdis/Sarah immer weiter in Depression und Agonie versinkt, steigt Black Hamoutal allmählich auf in jene Sphäre, in der sich Vigdis zu Anfang befand als junge, glückliche Frau. Der Realität der erzählten Geschichte stellt der Regisseur seine Vision von Menschlichkeit gegenüber.
Die Präsentation dieser überragenden Oper darf als Höhepunkt des Bielefelder Musiktheaters in dieser Saison gesehen werden. Der hohen und die Aktiven sehr fordernden Leistung zollte das Publikum ausgiebig Beifall.