Den Vorhang zu und alle Fragen offen
War es ein Selbstmord? Alvin Kelby, ein 35 Jahre alter gesellschaftlicher Außenseiter, stürzt am Heiligabend von einer Brücke in den Fluss. Sein Jugendfreund Thomas Weaver, erfolgreicher Autor von Kurzgeschichten, verzweifelt schier an der Aufgabe, eine Trauerrede für ihn zu schreiben. Den Kontakt zu Alvin hatte er schon lange verloren. Am Schreibtisch sitzend, wird er von Erinnerungen eingeholt – und von quälenden Fragen, die sich nicht mehr beantworten lassen. Warum gingen die Lebenswege auseinander? Wie konnte es zu diesem Tod kommen? Selbstzweifel und Schuldgefühle setzen Thomas zu, auch weil er Alvin einen Teil seines Erfolgs verdankt. Hätte er helfen können, dieses Ende zu verhindern?
Aus solch dunklem Stoff ein erfolgreiches Musical weben zu wollen, klingt nach einer verrückten Idee. Dem New Yorker Komponisten Neil Bartram ist der Coup im Verbund mit dem Autor Brian Hill gelungen: The Story of my Life, 2006 in Toronto uraufgeführt und mit vier „Drama Desk Awards“ ausgezeichnet, ist eine vielschichtige und bittersüße Erinnerung daran, dass der Mensch ein zutiefst soziales Wesen ist. Dass es gelungene Beziehungen sind, die unser Leben lebenswert machen.
The Story of my Life ist ein Musical im Taschenformat, mit nur zwei Hauptdarstellern und einem Mini-Orchester, ohne Chor und ohne Tanzeinlagen. Das Musiktheater im Revier (MiR) in Gelsenkirchen zeigt es im Foyer des Großen Hauses, räumlich eine eher mäßig glückliche Wahl. Doch im Kleinen Haus läuft zeitgleich eine andere Vorstellung. Ein Fall von schlechter Disposition?
Das MiR muss zu ein paar Notlösungen greifen, um das Foyer halbwegs bespielbar zu machen. Wegen der Glasfassade kann die Premiere erst nach Einbruch der Dunkelheit beginnen. Das klein besetzte Orchester sitzt eingekeilt zwischen den Stuhlreihen und dem Glaszylinder des Treppenhauses, dessen Rundung mit einer schwarzen Stellwand verschalt wird, um den Lichteinfall zu minimieren.
Dieses Setting, das sich ein wenig nach Schultheater anfühlt, ist kurz nach Beginn des Stücks rasch und gründlich vergessen. Das MiR kann sich bei den beiden Hauptdarstellern und beim Orchester bedanken, das Mateo Peñaloza Cecconi vom Konzertflügel aus leitet. Die reale Welt versinkt, weil sie das Publikum vollkommen in die tragische Geschichte dieser Freundschaft hineinziehen: in das Wechselspiel aus Gegenwart und Rückblende, aus dem sich allmählich ein Gesamtbild ergibt.
Der Südafrikaner Vongani Bevula, der für Regie, Bühne und Kostüme gleich dreifach Verantwortung für diese Produktion übernimmt, vertraut auf einfache Mittel und hält sich ansonsten angenehm zurück. Er kleidet Thomas in Schwarz und Alvin, zu diesem Zeitpunkt bereits ein Geist, in Weiß. Mehr als einen Schreibtisch, einige Bücherstapel, ein paar Handvoll Kunstschnee und dezente Bildprojektionen auf einer Leinwand benötigt er nicht, um das Kammerspiel in Gang zu setzen.
Gelassen schickt er Thomas Weaver auf den trügerischen Pfad der Erinnerungen, auf dem Schlüsselszenen in immer neuem Licht erscheinen. Was hat diese Geste bedeutet, was jener Satz? Warum hat Alvin Thomas einmal überraschend auf den Nacken geküsst? Die ungelösten Rätsel ziehen das Publikum in den Bann. Gemeinsam mit dem zunehmend zerknirschten Thomas versucht es, die Spuren zu lesen, Erkenntnis zu gewinnen.
Sebastian Schiller (Thomas) und Benjamin Lee (Alvin) zeichnen die verschiedenen Phasen einer Freundschaft mit großer Eindringlichkeit nach. Sie machen Zeitsprünge, verwandeln sich mal in freche Schuljungen, mal in junge Männer, die den Kopf voller Pläne und Träume haben und sich ganz allmählich auseinanderleben. Beide singen nicht mit ihrer Opernstimme, sondern vibratoarm und mit hoher Textverständlichkeit. Ein Klavier sowie eine Handvoll Streicher und Bläser der Neuen Philharmonie Westfalen untermalen das Geschehen mit rhythmischen Strukturen und melodischen Schnipseln, die umeinanderkreisen.
Wie Thomas mit seiner Schreibblockade kämpft, wie er jedes kaum beschriebene Blatt Papier gleich wieder zerreißt und von Erinnerungen überflutet wird, stellt Sebastian Schiller auf den Punkt genau dar. Unmöglich, nicht mit ihm zu fühlen: Die Leerstelle, die der Tod des Freundes hinterlassen hat, ist schmerzhaft offensichtlich. Er ringt mit der Erinnerung an Alvin, den Benjamin Lee als liebenswerten Euphoriker zeichnet, stets begeisterungsfähig, aber auch ein wenig weltfremd. Er ist zugleich Freund, Antreiber und Gegenspieler, der Thomas einen Spiegel vorhält. Lee gelingt es großartig, uns die Schatten hinter der stets optimistischen Fassade ahnen zu lassen.
Auf die nostalgisch-melancholische Grundstimmung streut die Musik von Neil Bartram gerne ein paar Zuckerstreusel. Vollends süßlich wird sie aber nie. Mateo Peñaloza Cecconi und die Mitglieder der Neuen Philharmonie Westfalen unterstützen die Darsteller liebevoll und kompetent. Das Premierenpublikum ist von The Story of my Life erkennbar berührt.