Auf der dunklen Seite der Seele
Musikalisch sind diese beiden Kurzopern ein ungleiches Paar. Arnold Schönbergs frühes Monodram Erwartung bewegt sich jenseits von Dur und Moll. Die Tonsprache ist expressionistisch und hoch suggestiv, Klang gewordene Neurose einer Frau, die auf der verzweifelten Suche nach ihrem Geliebten durch einen nächtlichen Wald irrt. Ganz anders die zweite Oper der 1858 geborenen Engländerin Ethel Smyth: In Der Wald geht es in jeder Hinsicht romantisch zu. Die Geschichte von Röschen und dem Holzfäller Heinrich, die am Vorabend ihrer Hochzeit eine dramatische Wendung nimmt, ist hörbar von Richard Wagner beeinflusst, große Chorszenen und ferner Hörnerklang inklusive.
Die Oper Wuppertal verbindet beide Werke zu einem interessanten Doppelabend. Das geht auch auf einen Vorschlag von Dirigent Patrick Hahn zurück. Weil Wuppertals neue Opernintendantin Rebekah Rota den Regisseur Manuel Schmitt mit Der Wald beauftragen wollte, die Oper aber nicht abendfüllend ist, schlug der Dirigent als Ergänzung Schönberg vor, dessen Geburtstag sich im September zum 150. Mal jährt. Überdies stammen beide Werke aus der gleichen, spannungsvollen Zeit vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs. Ort der Handlung ist jeweils der Rand eines Waldes.
Den begreift Regisseur Manuel Schmitt bei seinem Wuppertaler Debüt als Projektionsraum von Seelenzuständen, als Metapher für einen Ort des inneren Wandels. Ohne Pause lässt er die beiden Einakter ineinander übergehen, macht Schönbergs Erwartung sogar zur Vorgeschichte von Der Wald. Ein kreativer Kniff, der gut glückt, weil Schmitt kenntnisreich vorgeht und sorgsam darauf achtet, dass die Verklammerung keinen Schaden anrichtet und beide Stücke sich ganz entfalten dürfen.
Ein großformatiges Gemälde von Edvard Munch wird zum Tor von einer Welt in die andere. In surrealer Manier zeigt es ein Paar im Wald, dominiert den Raum, in der Schönbergs namenlose Hauptdarstellerin ihrem Geliebten entgegenfiebert. Es gibt eine Rezeption und ein paar Stühle für Wartende, wie in einem Hotel oder in einer noblen Arztpraxis. Stumme Gestalten geistern durch die Szene: ein Pierrot schaut zum Fenster hinein und streckt den Arm aus (Assoziationen an böse Clowns mögen sich da ebenso einstellen wie an Schönbergs Pierrot lunaire), ein Mann im Regencape stiefelt wort- und blicklos herein, eine Axt in der Hand.
Mit ihr zerfetzt die Hauptdarstellerin schließlich das Bild und steigt in die zerrissene Leinwand ein, womit der zweite Teil des Abends beginnt. Auch Röschen wartet auf ihren Geliebten, auf Heinrich, der ein gewildertes Reh für die Hochzeit mitbringt. Röschen erschrickt, denn auf Wilderei steht die Todesstrafe. Heinrichs Jagderfolg wird Jolanthe hinterbracht, der Geliebten des Landgrafen Rudolf, die bei den Dorfleuten als Hexe verschrien ist. Da sie Rudolf längst satt hat und sich lieber mit Heinrich einlassen möchte, versucht sie, ihn mit der Wilderei zu erpressen.
Ethel Smyth kehrt tradierte Rollen auf der Opernbühne um: kein Mann, sondern eine Frau übt hier sexualisierte Gewalt aus. Kein Wunder bei einer Komponistin, die sich gegen alle gesellschaftlichen Widerstände durchsetzte und engagiert für Frauenrechte stritt. Smyth war offen lesbisch, verkehrte mit Clara Schumann, Edvard Grieg und Johannes Brahms, war befreundet mit Virginia Woolf.
Souverän lässt ihre Partitur Naturlaut, Romantik und Leidenschaft Klang werden, zaubert Meistersinger-Glanz und harfenumrauschte Seligkeiten aus dem Orchester. Das Libretto, das sie selbst schrieb, kippt zuweilen recht unvermittelt ins Hymnische. Smyth will der Vergänglichkeit menschlicher Leidenschaften die ewige Natur entgegensetzen. Aber die wiederholte Anrufung des „heiligen Waldes“ wirkt auf heutige Ohren zuweilen schwülstig.
Die Regie zeigt in diesem Teil vier rothaarige Frauengestalten, die sich auffallend ähneln. Hat die namenlose Frau aus Erwartung sich aufgespalten? Sind sie, Röschen, Jolanthe und ein rothaariges Kind womöglich nur Persönlichkeitsanteile ein und desselben Menschen? Schmitt treibt ein intelligentes mit den Figuren und Symbolen: Wer würde bei einer Frau, die ein Beil schwenkt, nicht an die 1909 uraufgeführte Elektra von Richard Strauss denken? Das sind spannende Assoziationen, aber für einen „Psychothriller“, als der die Oper beworben wird, ist das Tempo denn doch zu ruhig.
Musikalisch haben die anderthalb Stunden es in sich. Sie zu stemmen, ist eine Herausforderung für alle Beteiligten. In den Gesangspartien spiegeln sich zunächst übersteigerte Erregungszustände, dann wuchtige Dramatik. Das Sinfonieorchester Wuppertal muss von der expressiven, psychologisch aufgeladenen Tonsprache Arnold Schönbergs in die üppige Romantik von Ethel Smyth finden. Was am Premierenabend geboten wird, ist vorzüglich differenziert und vielfältig. Was immer durch Schönbergs Partitur schauert, zärtlich oder angstfahl, leidenschaftlich oder hysterisch: Patrick Hahn und das Orchester leuchten es aus, dass es für zwei Hitchcock-Filme reichen würde.
Als Gast formt die Mezzosopranistin Hanna Larissa Naujoks Schönbergs Monodram zu einer grandiosen Wahnsinnsszene. Die gelingt ihr wie aus einem Guss. Sie beherrscht verschüchtert-fragile Nuancen, aber die Erregungsschübe, in die sie sich hineinsteigert – singend stammelnd, denn fast alle Sätze im Libretto sind abgerissen – wirken wie eine Fortschreibung der Salome von Richard Strauss.
Opern- und Extrachor der Wuppertaler Bühnen treten in Der Wald als bedrückend ambivalente Dorfgemeinschaft auf. Fröhliche Feierlaune kann jeden Moment umschlagen in gehässiges Getuschel und Drohgebärden. Mit diesem stimmstarken Kollektiv ist nicht zu spaßen, das ist auch Röschen von Beginn an klar. Mariya Taniguchi (als Gast) ist mit leidenschaftlichen Sopranhöhen die Gegenspielerin von Jolanthe, die Edith Grossman mit der voluminösen, herrisch-durchschlagenden Attitüde einer Ortrud zeichnet. Die Männer halten eindrucksvoll gegen: Sangmin Jeon (Heinrich) bringt eine Strahlkraft ein, die ins Heldische geht, Samueol Park (Landgraf Rudolf, als Gast) einen saftig-sonoren Bariton, der aus der Nebenpartie ein kleines Ereignis macht.
Wenn eine Regie, die echte Gedankenarbeit geleistet hat, musikalisch so beglaubigt wird, rundet sich Musiktheater zu dem Gesamtkunstwerk, das es sein sollte. Das Publikum dankt es mit auffallend einhelligem, begeistertem Beifall.