Freiheitspathos, neu befragt
Wer eine Eigenkomposition mit Beethovens Oper Fidelio verschränkt, läuft Gefahr, sich übel zu verheben. Was tun mit diesem Brocken voller Jubelpathos, Freiheitsemphase und Überhöhung der Gattenliebe? Wie Ludwig van Beethoven auf Augenhöhe begegnen, ohne ihn zu verzwergen, sein Werk als Steinbruch zu nutzen oder ihn zum Stichwortgeber zu degradieren? Was die 1965 in der Pfalz geborene Komponistin Charlotte Seither gewagt hat, hätte fürchterlich schief gehen können.
Umso erstaunlicher ist, was sie im Auftrag des Musiktheaters im Revier geschaffen hat. Fidelio schweigt. heißt ihr jüngstes Werk, das jetzt in Gelsenkirchen zur Uraufführung gelangte. Charlotte Seither nennt es eine „Dialog-Oper“, nicht etwa der gesprochenen Dialoge wegen, sondern weil sie ihre Neukomposition mit dem gut 200 Jahre alten Klassiker ins Gespräch bringen will. Sie hat Beethovens Original voller Respekt behandelt, tastet es in der Substanz nicht an, obwohl sie ausgewählte Szenen aus diesem „Schmerzenskind“ des Komponisten herausschneidet und in filmischer Schnitttechnik eng an ihre eigene Partitur montiert.
Was dabei entstand, ist weder Fledderei noch Stückwerk, sondern eine Beethoven-Betrachtung, genauer gesagt: eine Leonoren-Befragung. Die weibliche Hauptfigur, die der Urfassung ihren Titel gab, verkleidet sich in dieser Version nicht mehr als „Fidelio“, um sich unbemerkt in die Nähe des Gefängnisses zu schleichen, in dem ihr Ehemann inhaftiert ist. Sie verwandelt sich ganz offen in eine Rebellin. Aus ihren Bemühungen, Florestan zu befreien und sich gegen den Gouverneur Don Pizarro zu stellen, wird bald ein allgemeiner Kampf für Gerechtigkeit.
Die Bühne von Falko Herold und Vincent Mesnaritsch führt uns in düstere Gefängniswelten. Die Regie von Hermann Schneider richtet den Blick auf die Frauen. Sie sind es, die handeln, während die Männer entweder inhaftiert sind oder nicht aus ihren Machtpositionen herauskönnen (Rocco, Don Pizarro). Florestan und Don Pizarro sterben, Leonore steigt zur Justizministerin auf. Ist Fidelio schweigt. also ein tönendes feministisches Manifest? Nein, so einfach gestrickt ist das Libretto von Joseph Sonnleithner, Stephan von Breuning und Georg Friedrich Treitschke denn doch nicht (Hermann Schneider hat es an einigen Stellen ergänzt). Denn ob die alten Machtstrukturen wirklich durchbrochen werden oder ob sich gar nichts ändert, obwohl Frauen an die Stelle von Männern rücken, bleibt offen.
Wenn es in diesem Werk Schwachstellen gibt, finden sie sich abseits der Musik. Die Schlüsselszene spielt in einem Hotelzimmer, das von unten aus dem Boden fährt. Hier kommt es zu einem Tosca-Moment, in dem Leonore sich offenbar Pizarro hingeben soll, um Florestan zu retten. Stattdessen entwickelt sich ein verbaler Schlagabtausch, der recht holzschnittartig und melodramatisch wirkt.
Die Komponistin versucht mit Beethovens Hilfe eine universal gültige Geschichte von Unterdrückung und von der Sehnsucht nach Freiheit zu erzählen. Sie hat dafür eine atmosphärisch dichte Musik geschrieben, dunkel grundiert und von unheimlichen Glissandi durchzogen, voller Atemgeräusche und Gerassel wie von Ketten. Pauke und große Trommel pochen dumpf und suggestiv. Neben der Neuen Philharmonie Westfalen, die all dies unter der Leitung von Kapellmeister Peter Kattermann höchst wirkungsvoll umsetzt, engagieren sich auch die von Alexander Eberle gut einstudierten Chöre erkennbar für diese Uraufführung.
Das Solistenensemble, abseits von Polizeiuniformen und Häftlingsanzügen zeitlos modern gekleidet, singt Arien, Duette, Terzette und Quartette von Beethoven. Nach der instrumentalen Einleitung von Charlotte Seither legt Martin Homrich mit „Gott! Welch Dunkel hier!“ los. Als Florestan zeigt er helle Strahlkraft, beinahe mit heldischem Überdruck. Das imponiert, obwohl die Tongebung zuweilen flackert, also nicht immer auf die Tonhöhe fokussiert ist. Ilia Papandreou gibt der Leonore viel Freiheitsemphase, Benedict Nelson seinem Don Pizarro einen wohldosierten Schuss Schurkenschwärze. Almas Svilpa ist als Gefängniswärter Rocco eine solide Bank. Der Opernchor des MiR und der Projektchor halten sich glänzend, sowohl in Charlotte Seithers lautmalerischen Spielereien als auch in Beethovens wuchtiger Hymnik.
Fidelio schweigt, aber Leonore kommt als Justizministerin ebenfalls nicht zu Wort, jedenfalls nicht innerhalb dieses Stücks. Warum, sei an dieser Stelle nicht verraten.