Übrigens …

Doktor Ox im Theater Münster

Opulenter Bilderschmaus

Quiquendonne? Das ist eine belgische Kleinstadt, die eigentlich nicht existiert. Und doch steht sie exemplarisch für so viele im ausgehenden 19. Jahrhundert: Saturierte Bürger leben dort und befleißigen sich einer extremen Langsamkeit – nur nicht aufregen und alles ohne Emotionen ganz gemächlich angehen. Das schont die Nerven, ist aber auf Dauer den Geschäften äußerst abträglich: Ohne Fleiß eben doch keinen Preis. Und hier kommt Doktor Ox ins Spiel. Er soll die trägen Menschen mittels seiner Wunderdroge “Ox-Ygen“(nichts anderes als Sauerstoff) wieder auf Trab bringen. Doch das Experiment läuft aus dem Ruder. Denn statt zu arbeiten, feiert man, was das Zeug hält, verprasst sein Geld in Gasthäusern und beim käuflichen Sex, steht am Ende verarmt statt wohlhabender da.

Jacques Offenbach erweist sich in seiner Operette Doktor Ox wieder als ein Meister der Beobachtung der ihn umgebenden Gesellschaft und nimmt sie – immer gepaart mit Wohlwollen - auf‘s Korn. Außerdem reichert er die Handlung um eine Liebesgeschichte an, in der Ox die einst von ihm verschmähte Prascovia nach einigen Wirren zum Happy-End in die Arme schließen kann.

Regisseurin Anna Weber entschließt sich im Theater Münster dazu, gesellschaftliche Implikationen weitgehend unbeachtet zu lassen. Das ist schade, geht sie so der Geschichte nicht wirklich auf den Grund und verpasst so die Chance, sich mit dem tieferenGehalt des Werks wirklich auseinander zu setzen. Stattdessen erschafft sie gemeinsam mit Sina Manthey und Hanna Rode eine Fantasiewelt. Das Ganze scheint in einer überdimensionalen Gummizelle zu spielen. Eine grau-verschlafene Bürgerwelt wird effektvoll kontrastiert mit grellen neonfarbenen Kostümen einer Sci-Fi-Umgebung des Doktor Ox. Ein gelungener Tribut an die literarische Vorlage, einer utopischen Kurzgeschichte von Jules Verne.

Anja Weber behält auch in den Massenszenen große Übersicht auf der Bühne, lässt niemanden außer Acht. Und so gibt es in jedem Moment etwas zu sehen. Das macht den Abend zu einem großen Vergnügen für die Augen, kann aber auch zu einer Überforderung führen, die das Wesentliche unbemerkt vorbeigleiten lässt.

Leider geht im wilden Getümmel Offenbachs herrliche Musik ein wenig unter. Das liegt aber auch daran, dass das Stück viele gesprochene Dialoge enthält. Die hätte man, ohne der Handlung zu schaden, ein wenig „eindampfen“ und so der Produktion mehr Stringenz verleihen können. Außerdem führt das Singen in deutscher Sprache dazu, dass durch die weitgehende Plumpheit der Reime die Offenbachsche Delikatesse, das Feingliedrige, verloren geht.

Die Ausführenden jedenfalls tun alles, um Offenbach Gehör zu verschaffen: Allen voran der Opernchor Anton Tremmels, der kraftvoll singend, mit toller Bühnenpräsenz und spürbar großem Vergnügen an der Sache das Fundament für das Gelingen legt. Auch die kleineren Rollen werden mit ausstrahlender Freude gesungen. Schauspieler Christian Bo Salle behauptet sich als Bürgermeister Respekt verdienend im Musiktheater-Ensemble, Barbara Bräckelmann als seine Gattin hat längst die Schnauze voll von ihm, bekundet das mit raumgreifendem Mezzo auch ganz offen. Sie hat ein Auge geworfen auf Niclause, der ihre Liebe zwar hingebungsvoll erwidert, aber Angst hat vor den Konsequenzen. Gregor Dalal ist als armer Tropf einfach eine Wucht. Katharina Sahmland gibt herrlich die quäkend-weinerliche Bürgermeisterstochter Suzel.

Luise von Stein spielt die raffinierte und quicklebendige Zofe Lotsche, die den Bürgern geschickt das Geld aus der Tasche zieht und es so hinüber gleiten lässt zu der wirklich arbeitenden Klasse. Ludwig Obst glänzt als Ox‘ Gehilfe Ygen mit ebenmäßigem, markantem Tenor. Auch Garrie Davislim weiß in der Titelrolle durchsetzungsfähig zu überzeugen, erst egoistisch, dann rettungslos verliebt. Überragend Judith Gennrich als Prascovia. Liebe, Hass, Rachegelüste und Ohnmacht legt sie absolut überzeugend mit großer Ausstrahlung und umwerfender Komik in ihre Stimme.

Thorsten Schmid-Kapfenburg und das Sinfonieorchester Münster offenbaren die Brillanz der Offenbachschen Partitur, die Ironie, aber auch maßlose, spielerische Übertreibung beinhaltet.

Der Abend hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Er besticht durch bilderreiche Opulenz, geht Doktor Ox aber nicht wirklich auf den Grund. Aber die Produktion ist sehenswert, weil sie in jedem Fall eine schöne Abendunterhaltung und absolut hörenswerte Musik garantiert.