Übrigens …

Der fliegende Holländer im Duesseldorf Oper

Zwischen Wahn und Wirklichkeit

Dem schnöden Alltag entkommen, in Fantasiewelten flüchten: Wer täte das nicht zuweilen gerne? Die einen versenken sich in Bücher, andere tauchen in Videospiele ab oder schauen ihre Lieblingsserie. In die Oper zu gehen, mag ebenfalls eine Form von Eskapismus sein. Ab wann solches Verhalten krankhafte Züge annimmt, hängt vermutlich von der jeweiligen Persönlichkeit ab.

Bei Senta steigert sich die Begeisterung für den Film Der fliegende Holländer zur Besessenheit. Bereits in der Ouvertüre zeigt der russische Regisseur Vasily Barkhatov an der Rheinoper Düsseldorf, wie das Kind mit seinen Eltern ins Kino geht. Wie es Jahr für Jahr den gleichen Film anschaut, obwohl es längst jedes Wort mitsprechen kann. Wie das Mädchen zum Teenager reift, von den Gleichaltrigen für seine maßlose Leidenschaft verspottet, von den Erwachsenen kopfschüttelnd und ratlos beäugt. Die Popcornbehälter bleiben die gleichen, aber die Mutter wirft sich längst anderen Männern in die Arme.

Mehr und mehr lebt Senta in ihren Träumen. Kann sie Realität und Fiktion noch auseinanderhalten? Die Regie führt sie auf schwankenden Boden - und das Publikum gleich mit. Der Blick, der durch die Rückseite der Leinwand in den Vorführraum fällt, lässt die Projektionen vom sturmgepeitschten Meer mit der Wirklichkeit der Kinobesucher verschmelzen (die ihrerseits nur auf der Bühne real ist). Bald scheinen die Meereswogen die Sitzreihen zu erfassen. Die beginnen Dank der Bühnentechnik auf und ab zu schwanken. Wettergegerbte Seeleute nehmen in Plüschsesseln Platz. Und der Titelheld steigt wie in Woody Allens Film „Purple Rose of Cairo“ aus der Leinwand heraus.

Durch dieses Auf und Ab, dieses Zerfließen und Verschwimmen der Ebenen fühlen sich die Sinne wie in eine rollende Dünung versetzt. Seit Barrie Kosky 2006 Tristan und Isolde im Essener Aalto-Theater in einen drehenden Würfel packte, hat wahrscheinlich keine Inszenierung mehr so körperliche Empfindungen ausgelöst. Der Sprung von solcher Naturnähe ins virtuelle Zeitalter ist gewaltig. Die Regie lässt die Frauen in der Spinnstube nicht an Spindeln drehen, sondern an ihren Handys scrollen.

Es mögen zwar ein paar Sozialklischees im Spiel sein, aber als platte Aktualisierung lässt es sich nicht abtun. Vielmehr ist der Regieansatz geschickt genug, dass sich Parallelen zur Jetztzeit eröffnen. Es sind Steilvorlagen, die Barkhatov nicht ungenutzt lässt. Bekanntlich schlägt die Feierlaune von Dalands Mannschaft beinahe in Randale um: Barkhatov zeigt sie als Fußballfans beim Rudelgucken. Nach der x-ten Provokation bricht die Bilderflut aus dem Film über sie hinein wie ein Spuk. In der Menge der Fans wirkt der Holländer mit seinem schweren Pelzmantel sagenhaft bizarr.

Ob der Plan aufgeht, Senta durch die Begegnung mit dem Holländer von ihrem Wahn zu heilen, mag jeder selbst herausfinden. Die Produktion empfiehlt sich nachdrücklich, weil sie musikalisch Erstklassiges zu bieten hat: allen voran den Heldenbariton Michael Volle, „Faust“-Preisträger und einer der gefragtesten Sänger unserer Zeit. Dank seines Stimmvolumens wird aus der Sagengestalt kein steifes Denkmal, sondern ein Mann, der schwer an seinem Schicksal trägt und seine Sehnsucht innig ausdrückt. Volle singt die Partie, statt sie mit Kraft zu stemmen. Er muss auch nicht bellen oder keifen, um Untertöne von Bitterkeit und Ingrimm einfließen zu lassen.

Volles Ehefrau Gabriela Scherer ist als Senta zu erleben. In der Ballade vom fliegenden Holländer klingt ihr Sopran weder brustlastig noch brüchig. Bei der Premiere zeigt sie mehr hochdramatische als mädchenhafte Farben, vereint aber Stolz mit Innigkeit, fühlt sich darstellerisch und stimmlich immer intensiver in die Rolle hinein. Dass sich im Ensemble kein Riesen-Qualitätsunterschied zu diesem Paar bemerkbar macht, ist ein weiterer großer Pluspunkt. Bogdan Talos? (Daland), Jussi Myllys (Erik), Anna Harvey (Mary) und David Fischer (Steuermann) sind mehr als bloße Entourage. Sie zeichnen ihre Figuren mit Liebe und erfüllen sie auch stimmlich mit Glanz und Farbe.

Für Axel Kober ist dies die letzte Premiere als Generalmusikdirektor an der Deutschen Oper am Rhein. Nach nunmehr 15 Jahren verlässt der Dirigent das Haus, um sich künftig freiberuflich und frei von administrativen Verpflichtungen der Musik widmen zu können. Beim Holländer will er hörbar keinen Bombast: Wenn das Meer im Sturm zu kochen scheint, klingt das bei ihm nicht nach dicker Suppe. Transparenz und flotte Tempi dominieren, trotz kraftvoller Schübe vom Blech werden Erlösungsklänge nicht erdrückt. Kober fängt auch den stimmstarken Wettstreit des geteilten Opernchors ab, der als Daland- beziehungsweise Holländer-Mannschaft auftrumpft, aber dabei zum Eilen neigt.

Die Premiere endet mit Begeisterungsstürmen, unter die sich vom Rang ein einzelner Buhruf für die Regie mischt. Sie münden in einen rhythmischen Klatschmarsch, dem man deutlich anmerkt, dass er auch Axel Kober gilt. Es ist der Dank für eine Ära, an die Vitali Alekseenok nun als Chefdirigent anknüpfen darf.