Autorität, Macht und Rebellion
Das erste Bild: ein Varieté-Theater irgendwo in einer Stadt in Russland. Oben am Bühnenportal prangt das Porträt von Josef Stalin. Katerina Ismailova, so scheint es angesichts ihrer eleganten Kleidung, ist hier der Star des Hauses. Offenbar gibt es Zoff mit ihrem cholerischen Schwiegervater Boris, dem Chef des Ganzen. Dessen Sohn Sinowi, Ensemblemitglied des Varietés und Katerinas ungeliebter Mann, macht sich auf den Weg zu einer Reise in die Ferne - eine schöne Gelegenheit für den feschen Sergej, die von ihm begehrte Katerina für sich zu gewinnen, was ihm nach Anlaufschwierigkeiten auch gelingt.
Szenen- und Bühnenwechsel: die neu gewonnene Zweisamkeit von Sergej und Katerina spielt sich ab in einem ganz gewöhnlichen Plattenbau in einer ganz gewöhnlichen Wohnung aus den 1950er Jahren. Das verliebte Paar will seine Freiheit ausleben. Allerdings stört der Geist des toten Boris, den Katerina immer gehasst und dank eines vergifteten Pilzgerichtes zur Strecke gebracht hatte. Und es kommt noch schlimmer: der auf Reisen geglaubte Sinowi kehrt überraschend zurück - wird aber schnurstracks ins Jenseits befördert, seine Leiche anschließend im Keller abgelegt. Freie Fahrt für die Hochzeit, die Sergej und Katerina fröhlich feiern, bis Sinowis Leiche im Keller entdeckt wird. Vorbei ist der Spaß und die Polizei greift zu.
Hier, im siebten Bild der Lady Macbeth von Mzensk, Dmitri Schostakowitschs Oper aus dem Jahr 1932, schiebt Regisseur Francis Hüsers zwei bislang voneinander entfernte Welten ineinander: die des Varietés und die des biederen Lebens in der Mietwohnung. Hüsers geht mit seiner Inszenierung am Theater Hagen, dem Haus, das er seit 2017 als Intendant leitet, noch einen Schritt weiter und verlegt die Schlussszene statt in ein sibirisches Arbeitslager in eine (zeitlich keiner Einordnung bedürfende) desolate Welt, von Außenseitern bevölkert, gekleidet in orangefarbene Overalls und ausgestattet mit Müllsäcken. Doch auch hier - ganz unten in der gesellschaftlichen Hierarchie - herrscht menschliche Unerbittlichkeit und Kälte.
Francis Hüsers Lesart der Lady Macbeth konzentriert sich auf Aspekte wie Autorität, Macht(ausübung), Rebellion dagegen - und was sie mit den Menschen machen. Er zieht Theodor W. Adornos philosophisch-soziologische Studie über den „Autoritären Charakter“ hinzu, interpretiert die drei Hauptfiguren der Oper im Lichte der 1940 im amerikanischen Excil entstandenen Studie. Diesen wissenschaftlichen Hintergrund muss man nicht unbedingt kennen, um Hüsers Inszenierung zu verstehen. Denn der Regisseur findet zusammen mit Ausstatter Mathis Neidhardt „sprechende“ Bilder, die unmittelbar wirken und das Geflecht unterschiedlichster Beziehungen, Gefühle und Motivationen plastisch werden lässt. Dabei kann sich das Regieteam ganz auf Sängerdarsteller:innen verlassen, die sich mit Haut und Haar ihren Rollen verschreiben: Viktorija Kaminskaite als Lady Macbeth, die wunderbar changiert zwischen Liebe, Leid und Wut; Insu Hwang als „Unsymph“ Boris, der auch seine weiche Seite zeigen darf und kann; Anton Kuzenok als Sinowi, den etwas widerspenstigen Sohn des Boris; schließlich Roman Payer, der eigentlich nichts anderes ist als ein ziemlich egoistischer Typ. Alle übrigen Rollen - derer sind viele! - sind bestens besetzt, Chor und Extrachor zeigen sich stimmprächtig.
Joseph Trafton, Hagens GMD, dirigiert und lässt es vor allem gern krachen. Mitunter zu viel. Aber er arbeitet auch die ganze Raffinesse der Partitur heraus und punktet vor allem mit den orchestralen Zwischenspielen. Ein großes Ganzes - und für das Theater Hagen wieder einmal ein Grund stolz zu sein auf Orchester, Ensemble und einen mutigen Intendanten.