Todesahnung hinter Glitter und Tand
Berlin, Silvesterabend 1929: die Metropole brodelt und glüht. Nicht erst seit heute sondern schon seit Jahren. Die Menschen genießen ihre Freiheit, und das in vollen Zügen. Noch ahnt niemand so wirklich, dass das Leben ein Tanz auf einem Unheil bringenden Vulkan ist. In Cabaret, dem Erfolgsmusical von John Kander, Fred Ebb und Joe Masteroff, weiß man allerdings nach gut zwei Stunden, in welche Richtung sich Berlin und ganz Deutschland entwickelt.
Michael Heicks, seit bald 20 Jahren Intendant des Theaters Bielefeld, inszeniert selbst. Es ist eine Inszenierung, die ohne großen Glamour auskommt, ohne Riesenshow, ohne detailverliebt ausgestattete, realistische Spielräume. Eher im Gegenteil. Das beherrschende Bühnenelement ist eine riesige Wand, zerlegbar in drei Teile, die - mit einem gemeinsamen Mittelpunkt - miteinander oder gegeneinander drehbare Portale ergeben. Daraus entstehen die wechselnden Orte des Geschehens: der Kit-Kat-Club, die Pension von Fräulein Schneider, der Obstladen des Herrn Schultz. Orte, die Clifford Bradshaw, der junge und noch erfolglose amerikanische Schriftsteller, im Laufe seines Aufenthaltes in Berlin kennen lernen wird.
Es ist die Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus, auf die unterschiedliche Leute ganz unterschiedlich reagieren. Dies erzählt Michael Heicks ganz schnörkellos und eindeutig - mit einem Bühnenpersonal, das ebenso schnörkellos agiert. Fast schon typenhaft zeichnet Heicks die Figuren: Fräulein Schneider (Carmen Priego) als Pensionswirtin mit gouvernantenhaften Zügen, Herrn Schultz (Lorin Wey) als jüdischen Obsthändler, der unbekümmert-optimistisch in die Zukunft blickt und die braune Gefahr herunterspielt; Sally Bowles (Lara Hofmann), der Star im Kit-Kat-Club, ist alles andere als eine verführerische Diva mit klaren sexuellen Absichten sondern eher eine naive Göre mit finanziellen Problemen und auf der Suche nach einer billigen Bleibe. Diese findet sie bei Clifford Bradshaw (Nikolaj Alexander Brucker), in dessen Zimmer sie sich kurzerhand und ungefragt einnistet. Der Amerikaner ist eine Figur, die in dieser Inszenierung am ehesten eine klare Entwicklung durchmacht. Seine Lust auf das Leben in der Weltstadt beschert ihm nicht nur Spaß in Nachtclubs, sondern auch die Bekanntschaft mit Ernst Ludwig (Georg Böhm), der schon früh zu einem strammen Nazi geworden ist - was Clifford, nachdem er es erkennt, scharf ablehnt. Ihm gegenüber im Flur der Pension haust Fräulein Kost (Leona Grundig), eine ziemlich dumme Person, die nichts als Spaß will und die kein Problem hat, die Nazis gut zu finden. Auch nicht, wenn das anfangs brave Liedchen mit dem Refrain „der morgige Tag ist mein“ sich in martialische Militärmusik verwandelt.
Bleibt die Figur des Conférenciers (Christina Huckle): ganz in Schwarz gekleidet und - wie Sally Bowles - seltsam unerotisch. Er/sie symbolisiert als Todesvogel den Weg in die weltweite Katastrophe! Die kündigt sich in Cabaret ja in jenem Augenblick unzweideutig an, als das Geschäft von Herrn Schultz Ziel eines Anschlags wird.
Sally Bowles entscheidet sich für ein Verbleiben auf dem sinkenden Schiff Berlin und gegen die wage Hoffnung auf ein Glück mit Clifford in den USA. Und ist damit ein entwurzelter Mensch, von denen es in den folgenden Jahren viele Millionen in Europa geben wird.
Cabaret im September 2024: angesichts der politischen Zeitläufte stellt sich ein mulmiges Gefühl ein. Mindestens. Wenn nicht mehr. Und da ist es vielleicht gut, das Stück nicht (wieder) in dem Maße opulent und glamourös zu inszenieren, wie Nico Rabenald es im gleichen Bielefelder Haus zuletzt vor ziemlich genau 24 Jahren tat. Musikalisch indes sind beide Inszenierungen ebenbürtig: es wird ganz ausgezeichnet gesungen und gespielt. William Ward Murta bringt die Partitur perfekt zum Klingen, Opernchor und Philharmoniker sind in bester Sing- und Spiellaune. Dies alles wird vom Premierenpublikum gefeiert!