Wann stirbt sie endlich?
Regisseur Vincent Boussard hat ein sicheres Auge und einen Sinn für eine stilsichere Gestaltung der Szenerie. Gemeinsam mit Frank Philipp Schlößmann schafft er eine in sich stimmige Umgebung, in der Leben, Liebe und Tod der Violetta Valéry perfekt verortet werden können. Für Verdis La Traviata ist also ein würdiger Rahmen gesetzt. Das Zentrum bildet eine runde Bühnenrückwand, die erst konvex, dann konkav eingesetzt wird. Auf ihr werden Blüten in zartem Lila projiziert. Sind es Rosen oder Päonien? Auf jeden Fall sind sie hübsch anzuschauen. Die Bühne ist sonst fast leer. Im zweiten und dritten Akt sind ein Flügel und ein Stuhl alles, was Boussard braucht. Ihm geht es in erster Linie um die Ausleuchtung der Charaktere. Er zeichnet die Liebe von Alfredo und Violetta als Rausch, der für Alfredo irgendwann zu Ende ist. Die Tragik wird in der Titelfigur deutlich: Für Violetta ist dieser Mann ihr Weg in eine Zukunft, die so sehr anders sein soll als das bisherige Dasein als Kurtisane. Deshalb ist sie auch unfähig zu erkennen, dass Alfredo längst abgeschlossen hat mit einem Kapitel, dass für ihn nur eine Episode war in seinem Leben. Doch Violetta steigert sich wahnhaft hinein in ihren Traum. Und gibt nicht auf, an ihn zu glauben bis zum Tod, auf den Alfredo und sein Vater im dritten Akt ungeduldig warten, um endlich neu durchstarten zu können. Diese Warterei ist ein Schwachpunkt von Boussards Inszenierung. Denn sie erfasst irgendwann auch das Publikum. Während Vater Germont auf einem Stuhl herumsitzt, sein Sohn hin- und herläuft, schaut der Doktor unablässig auf die Uhr. Da entsteht eine Leere, die auch Violettas Gefühlsausbrüche nicht zu füllen vermögen. Und so macht sich Erleichterung breit, als sie dekorativ auf dem Flügel ihr Leben aushaucht.
Das Movens dieses Abends ist aber sicher das, was aus dem Orchestergraben in den Dortmunder Theaterraum strömt. Will Humburg und seine Musiker:innen schürfen tief nach dem glitzernden Gold in Verdis Partitur und bringen es zu Tage. Das fasziniert, geht direkt ins Herz und nimmt mit. Humburg wählt zügige Tempi. Das geht bei ihm aber nicht auf Kosten der leisen, nachdenklichen Momente. Diese unterstreicht er, hebt sie hervor. Bei Humburg und den Dortmunder Philharmonikern, die hinreißend spielen. geht nichts verloren von Verdis grandioser Musik. Das macht diese La Traviata zu einem großen Ereignis.
Fabio Mancinis Chor greift Humburgs Konzept auf, singt und spielt in Abendgarderobe voll Engagement. Das Dortmunder Ensemble fällt immer wieder dadurch auf, dass es kleinere Partien in hervorragender Qualität besetzen kann. Da bildet diese Traviata keine Ausnahme und das trägt gewiss zum Glanz dieses Abends bei.
Mandla Mndebele ist Giorgio Germont, Alfredos Vater, der seinen Sohn wieder „auf den Pfad der Tugend“ zurückführen will und dabei von der aufrichtigen Haltung Violettas überrascht wird. Mndebele singt sonor, aber auch etwas glanzlos.
Andrea Carè ist ein Tenor italienischer Art, wie man sich ihn vorstellt. Sein Alfredo prescht geradeaus vor, legt seine ganze Seele offen. Anna Sohn in der Titelpartie hat ihre Figur durchdrungen, spielt mit ihrer Stimme auf der ganzen Klaviatur der Emotionen, offenbart kindliche Freude ebenso wie furchtbare Angst. Lediglich in den hohen Lagen fallen ihre Töne bisweilen etwas „auseinander“.
Das Publikum feiert zurecht diese Traviata und die Dortmunder Oper beweist zum Saisoneinstieg ihre hohe Leistungsfähigkeit. Deshalb können alle getrost bei der Premierenfeier mit dem Trinklied anstoßen: „Libiamo, libiamo ne? lieti calici“.