Lyrik und Schmerz in den Liedern von PJ Harvey
Eigentlich ist das Konzept der Inszenierung ganz einfach: Sandra Hüller singt 26 Songs der britischen Singer-Songwriterin PJ Harvey – and that’s it. Begleitet und unterstützt wird Hüller mit einigem Brimborium von der Marseiller Tanz-Kompanie (LA)HORDE, von Jan Versweyvelds wirkungsvollem Licht-Design sowie von Christopher Ashs tollen Videos. Aber Brimborium bietet heute jedes Live-Konzert eines mittleren Rock- oder Popstars in weit überwältigenderem Maße. Beschränkt sich der Abend also auf eine individuelle Zusammenstellung von Lieblingsliedern in der Länge einer Doppel-CD?
Natürlich nicht. Regisseur Ivo van Hove und sein Team wagen ein Experiment. Harveys Texte haben literarische Qualität, und so versuchen die Beteiligten, allein mit Hilfe der 26 Songs (nebst Brimborium und Video-Design) eine Geschichte erzählen: die Geschichte von der Entwicklung der Sängerin von ihren noch etwas unsicheren Anfängen zur politisch motivierten Punk- und Protestsängerin bis hin zur Gelassenheit und Altersweisheit ihres späteren Werks. Ob das Story-Telling gelingt, sei dahingestellt. Wenn man die Absicht kennt, kann man anhand der Liedtexte und der Reihung allerdings einen logischen Aufbau des Abends im Sinne einer Biographie der Sängerin erkennen. Tief grüne Pflanzen oder Hecken zeigt Ashs Video zu Beginn: Wir befinden uns im südenglischen County Dorset, in der Heimat der Sängerin, wo Harvey im ersten Lied des Abends die Samen einer Rose aussät und mit ihren eigenen Schuhen das Wachstum der Blume stört: „Teach Me to Grow“, singt sie. Das Motiv dieser speziellen, von außen induzierten, aber auch auf eine innere Labilität zurückzuführenden „Wachstumsstörung“ wiederholt sich in Harveys Texten mehrfach in unterschiedlichen Zusammenhängen.
Melancholisch, überraschend melodisch klingen die frühen Songs, die Sandra Hüller mit bewusst dünner, elektronisch verstärkter Stimme singt. Dass Hüller auch anders kann, werden wir bald hören. Schon das dritte Lied spricht innerfamiliäre Ängste und Gewalterfahrungen an; schnell geht dann der melodische, lyrische Sound der ersten Lieder, die wie Oden an die Heimat und die Jugend wirken, in die härteren Töne und Rhythmen von Antikriegs-Songs über, die mit militärischen Bildern illustriert werden. Die greener pastures von Harveys Heimat verwandeln sich auf der Videowand in Sand- und Asphalt-Wüsten; den torfigen Boden der Bühne kann man nun als Verlängerung der (irakischen?) Wüste auf dem Video interpretieren. Im Video und / oder auf der Bühne sieht man militärische Exerzitien, zackige soldatische Bewegungen; einmal robbt Hüller durch den Torf wie Soldatinnen bei einer Militär-Übung. Einer der Soldaten, die Harvey besingt, scheint der Geliebte der Sängerin zu sein – und wieder erklingt das Motiv eines gestörten Wachstums, einer Unterminierung von Stabilität: „…in my own heart / Every tree is broken / The first tree will not blossom / The second will not grow / The third is almost fallen / Since you betrayed me so.“
Das „blue eyed girl“ wird zur „blue eyed whore“. Hüller wiegt eine Tänzerin in ihren Armen wie eine Mutter ihr unglückliches Kind – und zieht dann plötzlich die um den Hals der Tänzerin gelegte Schlinge zu. Spätestens diese Szene markiert einen Wendepunkt in der Aufführung, eine Entwicklung zu mehr Brutalität. Es geht um das Böse, das die Menschen einander antun, um Prostitution, Vergewaltigung und Tod – fast immer aber vor dem Hintergrund einer großen Sehnsucht nach Liebe oder der Trauer über einen Verlust. „Our glorious country“ wird durchpflügt von Panzern und marschierenden Füßen, wie es in „The Glorious Land“ heißt – einer zutiefst pessimistischen Hymne, deren Lyrik auch von Joan Baez stammen könnte. Zentral in die Mitte des Abends haben Regisseur Ivo van Hove und seine Protagonistin mit „Meet Ze Monsta“ das punkigste, lärmendste Lied platziert, das fast nur noch herausgebrüllt wird. Hüller selbst greift zur Kamera und filmt die Folterung eines jungen Mädchens zu Zeilen über Liebe und Schmerz. Längst haben traumatische Bilder die religiösen Konnotationen des Beginns abgelöst.
Selbstverständlich sind im Publikum alle Augen auf Sandra Hüller gerichtet, die nach ihren herausragenden Filmerfolgen mit „Anatomie eines Falls“ und „The Zone of Interest“ innerhalb eines Jahres von einer bewunderten deutschen Schauspielerin zum Weltstar geworden ist. Hüller hat sich bereits in den vergangenen Jahren als Ensemble-Mitglied des Schauspielhauses Bochum als talentierter Rock- und Popstar versucht und ihre Freude an Performance Art und experimentellen Off-Formaten unter Beweis gestellt (siehe Dantons Tod, Bilder deiner Großen Liebe, Die Hydra. Sie beherrscht ein bewundernswertes Repertoire von lyrischen Songs bis Rock und Punk. Aber sie performt ohne jede Star-Allüren und integriert sich mit erkennbarem Genuss in das professionelle Tanz- und Musik-Ensemble. Mal geht sie gleichberechtigt auf in den großen Choreographien des Ballet National (LA)HORDE aus Marseille, mal tanzt sie ein Duett als Teil eines Teams. Eine richtige Geschichte wird nicht erzählt, aber wenn man aufmerksam zuhört, erkennt man, dass die Regie immer wieder Bezüge der einzelnen 26 Lieder untereinander gesucht und gefunden hat. Das Gesamtkunstwerk funktioniert tadellos.
Am Ende kehrt PJ Harvey wieder zu den weißen Kreidefelsen der Südküste von Dorset zurück. Der Pessimismus von „The Glorious Land“ scheint verflogen. In der Heimat herrscht verhaltener Optimismus: Ob wir den Tod durch Schock erleiden, ohne Gerichtsverfahren zum Sterben verurteilt werden, ob wir im Leben die Orientierung verlieren - "We float. Take life as it comes." Gelassen die Herausforderungen der Gegenwart annehmend. Und weil das Licht und die Videos so toll sind, die Songtexte so perfekt, weil der Tanz so dynamisch und die Hüller so ausdrucksvoll ist, genießt auch das Publikum den Moment. Der Plot mag banal sein, aber das Konzert ist hinreißend!