Aufgeschlitzte Kehlen, die begeistern
Das Arbeitsmaterial ist das Wichtigste für handwerkliche Berufe. Das wusste man schon im 19. Jahrhundert. Und so hatte auch der Barbier Benjamin Barker ein fein ziseliertes, silbernes Rasiermesser. Und er hatte eine schöne Frau. Die aber wollte Richter Turpin haben, verbannte Barker nach Australien und gelangte so an sein Ziel. Als Barker, der sich nun Sweeney Todd nennt, nach London zurückkehrt, kennt ihn niemand mehr außer der Pastetenbäckerin Mrs. Lovett. Aber sein ultrascharfes Rasiermesser ist noch da und auch Richter Turpin. Todd schwört Rache...
Die Geschichte dieser Rache erzählt Stephen Sondheim in seinem Musical Sweeney Todd. Aber er erzählt noch viel mehr. Nicht nur eine kleine Liebesgeschichte; Sondheim breitet das Elend einer Stadt in der Phase der Industrialisierung aus, berichtet von der herrschenden Klasse, die die Armen mit Füßen tritt, auf ihre Kosten lebt und dennoch heuchlerische Moralvorstellungen propagiert. Dabei bleibt er nicht stehen, sondern zeigt auch, wie Menschen an diesen Verhältnissen zerbrechen können, psychisch krank werden.
Und das soll ein Musical sein, das ja schließlich unterhalten will? Aber ja, denn Sondheim spart nicht an zarten Liebesszenen, feiner und auch derber Komik. Großartige Massenszenen bieten etwas für die Augen. Regisseur Gil Mehmert setzt das alles ganz großartig um. Ein riesiger Backofen - mit Kohle befeuert, wie ihn die Meisten wahrscheinlich nur noch aus dem Heimatmuseum kennen - bildet den Mittelpunkt der Bühne und schafft Platz für mehrere Spielstätten. Biertische und -bänke lassen, schnell und flexibel umgestellt, andere Räume entstehen. Jens Kilian hat da ganze Arbeit geleistet und bietet Mehmert unendliche Möglichkeiten, neue Figurenkonstellationen auf die Bühne zu stellen. Und Michael Grundners Lichtdesign taucht die Bühne in unendlich viele Farbvarianten vom nebligen Grau bis zum aufflammenden Rot.
Und so erfährt das Publikum, warum ein Schacht von Todds Barbiersalon in die Pastetenbackstube führt und woraus Mrs. Lovetts Köstlichkeiten gefertigt sind. Das ist alles andere als appetitlich. Und dennoch: Auch wenn am Ende viele Tote bleiben und höchstens eine vage Hoffnung auf ein Happy-End für‘s Liebespaar, fühlen sich alle unterhalten.
Das liegt zum einen an den wirklich toll agierenden Menschen auf der Bühne. Fabio Mancinis Chor meistert seine Partien mit Präzision, Ausdruckskraft und ganz viel Spielfreude. Fritz Steinbacher gibt den Erpresser Pirelli in Joker-Outfit mit österreichischem Slang - eine wirklich köstlich „unheilvolle“ Melange. Aalglatt sind Andreas Laurenz Maier als Richter und Florian Sigmund als sein Büttel – Schurken, wie sie im Buche stehen. Nina Janke verkörpert glaubhaft die Bettlerin, die seelisch zerstörte Kreatur, die die Gesellschaft vernichtet hat.
Jonas Hein ist der junge Liebhaber, der beseelt von einer besseren Zukunft singt. Er hat noch keine Blessuren erlitten. Hein singt leicht, getragen von seinen Gefühlen. Das tut auch Harriet Jones als Johanna, die sich sehnsüchtig herausträumt aus allen Zwängen, die sie gefangen halten. Großartig Julius Störmer als Tobias, Gehilfe Pirellis und dann Lovetts, der sich in einer verstörenden Welt an einen Menschen bindet und alles für ihn tun will bis hin zum Mord.
Bettina Mönchs Mrs. Lovett ist abgestumpft und verroht vom täglichen Kampf um die Existenz. Sie ist bereit alles dafür zu tun, sich ein bürgerliches Leben aufzubauen und sei es, Menschenfleisch zu verbacken. In Todd sieht sie den Rettungsanker für sich. Mönch umgarnt ihn deshalb mit einer gelungenen Mischung aus Kalkül und Gefühl. Morgan Moody in der Titelrolle zeigt stimmlich brillant eine zerstörte Persönlichkeit, getrieben von Rache. Ihm gelingt es aber auch, Reste einer sanften, emotionalen Seele mit leisen Sequenzen herauf zu beschwören.
Motor des Abends aber ist Sondheims unglaublich farbige, einfallsreiche Musik. Wie oft gibt es in Musicals nur ein paar einprägsame Melodien, die über das Stück hinweg immer wieder zu hören sind. Nicht so bei Sondheim. Er bestimmt, trägt und untermalt mit seinen Songs das Bühnengeschehen. Da gibt es Choräle wie bei Kurt Weill, komplizierte Chorpartien und auch einfache Liebeslieder, die zu Herzen gehen. Bemerkenswert sind die Ensembles: Duette, Terzette, Quartette von überbordendem musikalischen Einfallsreichtum. Diese Musik nimmt mit und fesselt. Koji Ishizaka und die Dortmunder Philharmoniker lassen Sondheims Brillanz funkeln.
Ein Musical der Extraklasse, das musikalisch und szenisch effektvoll umgesetzt wird. Kein Wunder, dass es das Publikum keine Sekunde auf den Sitzen hält. Gut, dass das Dortmunder Opernhaus viele Plätze hat. Denn Sweeney Todd ist ein Ereignis, dass niemand verpassen sollte.