Schuld und Unschuld
Am Ende sitzt man da in seinem Theatersessel, ist völlig ergriffen, mitgenommen und stellt sich ganz eigene Fragen, schärft womöglich auch sein oft vorschnelles Urteil über Menschen, die „so etwas“ tun.
„So etwas“? Es vergeht kein Jahr, in dem nicht berichtet wird über Amokläufe, Blutbäder, die von irgend welchen „Verrückten“ angerichtet werden. Um einen solchen Amoklauf geht es in Kaija Saariahos vor drei Jahren uraufgeführter letzter Oper Innocence. Ein fiktiver Amoklauf an einer Schule in Helsinki kostete neun Schüler*innen und einen Lehrer das Leben. Täter: ein minderjähriger Schüler, den man dann in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht hat.
Lange zehn Jahre sind seitdem vergangen. Jetzt steht eine Hochzeit an. Tuomas, der Adoptivbruder des Täters, will seine Stela heiraten. Eine „Hinzugereiste“, eine Urlaubsbekanntschaft aus Bukarest, die von dem Amoklauf nichts weiß, vor allem nicht von der Verstrickung des Bräutigams und dessen Familie in diese Tat. Man hat ihr gegenüber das Schreckliche einfach totgeschwiegen. Es hätte so bleiben können. Doch am Hochzeitstag im kleinen Kreis (die Familie wird seit dem Verbrechen von Anderen gemieden) taucht Tereza auf, die als Kellnerin bei der Feier spontan aushelfen soll - und erkennen muss, mit wem sie es da zu tun hat: mit jener Familie, deren Sohn beim Amoklauf auch ihre eigene Tochter Markéta umgebracht hat. Unter diesem Verlust leidet sie bis heute. Und die Braut Stela? Soll sie wirklich von all dem nichts erfahren? Tereza ringt lange mit sich. Aber dann, nach rund 70 Minuten in Kaija Saariahos Oper, bricht es aus Tereza heraus und sie konfrontiert Stela mit der Wahrheit!
Bis dahin entwickelt sich so etwas wie ein Erkenntnisprozess bei allen, die auf der Bühne agieren: Eltern, Adoptivbruder, ein mit der Familie befreundeter Priester, sechs Schüler*innen, die den Amoklauf ebenso überlebt haben wie eine Lehrerin... Regisseurin Elisabeth Stöppler entwickelt eine kongeniale Personenführung in einem zunächst etwas trocken wirkenden zweistöckigen metallenen Kubus mit opaken Wänden und Treppen - eine klinische Umgebung, die Stöppler aber sehr individuell und „menschlich“ bespielen lässt. Das Licht sorgt für die Abgrenzung von Räumen, in denen die Handelnden ihre Sicht auf das Geschehen entfalten können. Ein großer Wurf!
Stöppler thematisiert hier grundsätzlich die Frage nach Schuld und Unschuld. Die Grenzen zwischen Täter(n) und Opfern verschwimmen, jede einzelne Person reflektiert ihr Handeln, überdenkt die Rolle, die sie gespielt hat, bis es zu dem schrecklichen Ereignis an der internationalen Schule in Helsinki kam. Was hätte ich tun können? Was habe ich nicht erkannt, was habe ich bewusst nicht wahrnehmen wollen? Fragen, die sich jede und jeder heute stellen kann und muss angesichts dessen, dass Gewalt in jeder Form uns tagtäglich begegnet. Können wir Gräueltaten verhindern? Wären sie ausgeblieben, hätten wir vorher Achtsamkeit gegenüber unserem Sohn, Bruder, Mitschüler gepflegt? Das sind virulente Fragen, auch an das Publikum im Theatersaal!
Kaija Saariaho entwickelt zu dem Libretto ihrer finnischen Landsfrau Sofi Oksanen eine unglaublich faszinierende Musik voller Suggestivkraft. Hochkonzentriert, empathisch, sensibel, dicht am Geschehen, hier mal begleitend, dort mal evozierend... und voller Farbigkeit. Nirgends konstruiert oder verkopft, stattdessen sinnlich. In neun Sprachen wird gesungen - ein Statement, denn das Geschehen kann sich überall ereignen. Und Saariaho bleibt stets sänger*innenfreundlich!
Das Chorwerk Ruhr agiert streng an Pulten sitzend und nimmt die kommentierende Funktion des Chores wie in griechischen Tragödien ein.
Valtteri Rauhalammi am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen, am Premierenabend exorbitant gut, trägt das Ensemble auf der Bühne wie auf Händen. 13 Rollen sind zu besetzen. Das ist eine ganze Menge. In Gelsenkirchen sind sie ohne jede Ausnahme einfach toll, man mag kaum jemanden der Sänger*innen hervorheben, weil wirklich alle auf gleich hohem Niveau singen und spielen.
Angespannte Stille herrscht im vollbesetzten Großen Haus des Musiktheaters im Revier während der Vorstellung. Am Schluss entlädt sich die spürbare Betroffenheit in riesigem Jubel.