In der Tiefgarage der Instinkte
Das ist der passende Ort zum Nicht-Leben: Der Palast von Mykene sieht so unwirtlich aus wie eine Tiefgarage. In der Kölner Neuinszenierung der Oper Elektra von Richard Strauss fällt der Blick in einen dunklen, zu allen Seiten offenen Raum. Der nackte, graue Boden wird durch einen Wald viereckiger Säulen mit einer Betondecke verbunden. Es gibt kein Tageslicht, nur Leuchtstoffröhren, deren kaltes Licht in den Erregungsausbrüchen dieser Tragödie wild zu flackern beginnt. Hier vegetieren sie vor sich hin, die verfluchten Nachfahren des Tantalos, verstrickt in Machthunger und Gewalt, in Hassgefühle und Rachegelüste.
Wie die Figuren dieser Oper miteinander umgehen, ist in beinahe jeder Hinsicht unterirdisch. Elektra, von der Mutter Klytämnestra wie ein Tier gefangen gehalten, lebt nur noch für den Gedanken, den Vater Agamemnon zu rächen. Der wurde von Klytämnestra und ihrem Liebhaber Aegisth ermordet. Die Bühne von Piero Vinciguerra, die von Andreas Grüter suggestiv ausgeleuchtet wird, führt die Zuschauer direkt ins Labyrinth niederer Instinkte - und in die Gefilde der Verzweiflung.
Regisseur Roland Schwab hat es angesichts starker Leistungen seines Produktionsteams relativ leicht, den Albtraum in Szene zu setzen. Wie aus dem Nichts tauchen die Personen aus dem dunklen Bühnenhintergrund auf: die Mägde zunächst, dann Elektra und die anderen Hauptdarsteller. Sie suchen an den Säulen Halt, verstecken sich auch oft dahinter. Sie lauern wie Raubtiere auf dem Sprung. Schwab lässt Elektra oft nach Stricken greifen, mit denen sie sich selbst fesselt. Sie, die ein großes „N“ für die Rachegöttin Nemesis als gezackten Blitz auf der Brust trägt, steckt in ihrem Seelengefängnis fest. Wenn sie ihre Schwester zum gemeinschaftlichen Rachemord überreden will, umgarnt sie Chrysothemis im Wortsinne.
Trotz aller Finsternis gönnt Schwab den Opernfreund:innen einen dezenten, angenehmen Hauch von Eleganz. Er lässt keine abstoßenden Untoten aufmarschieren, sondern zeigt Menschen, die einst königlich waren, in verwildertem Zustand. Klytemnästra ist bei ihm kein abgewrackter Zombie, sondern hat trotz aller Unmoral und Dekadenz durchaus noch Eleganz.
Unbedingt muss hier die Rede auf Gabriele Rupprecht kommen, die mit ihren Kostümen stark zur Figurenzeichnung beiträgt. Das rote Seidenkleid der Klytemnästra ist ein toller Blickfang, samt langer Schleppe, auf die Elektra genüsslich mit dem Fuß tritt, um sie nicht fortzulassen. Die Dienerinnen sind in ihre bizarren Gewänder nachgerade eingenäht. Chrysothemis ist im hellen Kleid mit changierenden Stoffen auch optisch der Gegenpol zu Elektra, dieser düster gekleideten Furie, die sich offensichtlich die Oberarme ritzt. Dass Orest schwer an der ihm auferlegten Rache trägt, symbolisiert ein militärisch aussehender Rucksack.
Die auf die Premiere folgende (und hier besprochene) Vorstellung muss fünf krankheitsbedingte Umbesetzungen verkraften. Musikalisch ist davon nichts zu hören: Zu erleben ist eine Elektra, die das Publikum mächtig auf- und durchrüttelt.
Weil das Gürzenich-Orchester links von der Bühne sitzt, vermittelt sich die Wucht der Strauss-Partitur vielleicht nicht ganz so körperlich wie gewohnt. Aber unter der kompetenten Leitung von Felix Bender, seit drei Jahren Generalmusikdirektor in Ulm, entfaltet das Gürzenich-Orchester die vielen verschiedenen Klangwelten, die sich in diesem Werk verbergen, von nachtschwarzen Tuba-Tiefen bis zu verheißungsvollem „Rosenkavalier“-Schmelz. So sehr Bender sich auf die Emotionen versteht, die hier bis zum Wahnsinn aufgepeitscht werden, ist er auch ein Feinschmied, der die ganze Raffinesse der Strauss’schen Tonsprache herausarbeitet. Das Gürzenich-Orchester folgt ihm engagiert.
Das Gesangsensemble profitiert von der Nähe zum Publikum, die durch die ungewöhnliche Aufführungssituation in der Ausweichspielstätte (dem Staatenhaus) entsteht. Es packt diese Chance entschlossen beim Schopf. Lioba Braun hebt Klytemnästra deutlich über viele andere Interpretationen hinaus. Für ihre stimmliche Darstellung braucht es keine Euphemismen, weil sie die Partie nicht krächzt und kräht, sondern sanglich formt, mit grimmigem Feuer und abgründigen Tiefen. Auch schauspielerisch setzt sie ein Ausrufezeichen: Ins Lachen des Wahnsinns ausbrechend, taumelnd und zugleich triumphierend, furchterregend trotz körperlicher Hinfälligkeit.
Wie eigentlich jede Strauss-Oper, braucht Elektra große Frauenstimmen. Auch in dieser Hinsicht kann die Kölner Neuproduktion punkten. Die gebürtige Britin Allison Oakes, die erst 2022/23 als Chrysothemis an der Bayerischen Staatsoper debütierte, singt in Köln nun erstmals die Titelpartie. Sie wächst dabei immer stärker in die Majestät und in die Obsessionen der verstoßenen Königstochter hinein. Sie kann ihre hochdramatische Kraft nicht nur gut dosieren, sondern auch differenzieren: findet tückische Untertöne im Dialog mit der Mutter und warme, zärtliche Farben, wenn sie den wiedergefundenen Bruder Orest begrüßt.
Wie um alles in der Welt bringt Magdalena Hinterdobler es als Einspringerin fertig, noch die spitzesten Verzweiflungsschreie der Chrysothemis so blühend, so wohlklingend zu gestalten? Woher nimmt sie die Kraft und die Reserven, bis zum Schluss immer noch steigerungsfähig zu sein? Seit dem vergangenen Jahr ist sie Ensemblemitglied an der Oper Frankfurt: Man muss das Haus wohl um diese Sopranistin beneiden. Ihr schlägt am Ende kein Begeisterungssturm, sondern ein veritabler Orkan entgegen - verdientermaßen.
Insik Choi gibt dem Orest eine sonore Stimme, aus der die Schicksalsschwere tönt: traurig, somnambul, aber auch unerschütterlich fest. Auch die Partie des Aegisth ist endlich einmal richtig gesungen zu erleben. Das ist Martin Koch zu verdanken, der stimmlich nichts erzwingt, sondern sich ebenfalls auf die Ausformung der Partie konzentriert. Die Sänger und Sängerinnen der Diener und Mägde begreifen sich offensichtlich nicht als Rand- oder Nebenfiguren. Mögen ihre Rollen auch kleiner sein, ihr Engagement ist es nicht.
Wer diese Elektra erlebt hat, braucht danach eine Weile, um von diesem extremen Erregungsniveau wieder herunterzukommen. Ein intensives Opernerlebnis.