Zusammenprall verschiedener Welten
Wie so oft in Märchen prallen auch in Engelbert Humperdincks Oper Königskinder Welten aufeinander. Die erste scheint noch in bester Ordnung: draußen im Wald, fernab jeglicher Zivilisation lebt es sich geradezu paradiesisch. Der Hexe und der Gänsemagd mangelt es an nichts. Oder doch? Zumindest die Magd spürt, das etwas fehlt: die Begegnung mit „echten“ Menschen. Da kommt der Königssohn des Weges - und gerade recht! Er ist genervt von seinem Dasein im väterlichen Schloss, einem goldenen Käfig. Und auch er ist neugierig auf „echte“ Menschen. Das trifft sich also gut! Magd und Königssohn haben etwas gemeinsam.
Die nächste Welt - von der Gegend im Wald scharf abgegrenzt - ist die der Bewohner:innen von Hellastadt. Eine saturierte, ebenso kleinstädtische wie kleinbürgerliche Gemeinschaft mit festen Regeln und Vorstellungen. Diese Leute suchen nach einem neuen König, konsultieren in dieser Angelegenheit die Hexe im Hellawald und setzen auf deren prophetische Kraft. Als dann aus deren Weisung Konsequenzen hätten gezogen werden müssen, verweigern sich die Bürger:innen. Königssohn und Gänsemagd hätten das neue königliche Paar, der Voraussage der Hexe folgend, werden sollen. Doch man jagt sie von dannen, weil sie ihren Vorstellungen nicht entsprechen. Nun vergeht eine Zeit... Hellastadt versinkt in Dekadenz, die Hexe ist längst den Flammen des Scheiterhaufens zum Opfer gefallen. Jetzt kommen die Kinder des Städtchens ins Spiel, die erkannt haben, dass es die Königskinder waren, die man einst fortgeschickt hat. Die Suche nach ihnen beginnt. Man findet sie tot, just am Ort ihrer ersten Begegnung: im Wald, vor der Hütte der Hexe.
Die ganze Geschichte ist etwas komplizierter und reicher an Details. Regisseurin Clara Kalus macht daraus eine Erzählung, die drei Generationen oder gesellschaftliche Realitäten aufeinander prallen lässt und dafür ansprechende und aussagekräftige Bilder findet: der Wald ist zeitlose Natur pur, die Leute von Hellastadt leben in den 1950er Jahren, die Suche der Kinder wirkt wie eine Aktion von „Fridays for Future“ oder „Letzte Generation“, wie die Suche nach Zukunft, die human und im Einklang mit der Natur ist. „Wie werden wir uns wiederfinden?“ lautet die Frage auf den Pappschildern, die die Kinder wie auf einer Demo mit sich tragen. Gute Frage! Clara Kalus weicht an dieser Stelle vom ursprünglichen Opernplan ab und lässt Königssohn und Gänsemagd (resp. Königin) wieder auferstehen. Der beiden humanistische Gesinnung weist den Weg!
Kalus‘ Deutung ist in sich geschlossen und Dieter Richter, der „Altmeister“ des Bühnenbildes, gestaltet ihr großzügige Räume, die am Ende in einer Winterlandschaft kulminieren. Dies alles zu Humperdincks Musik (die Königskinder wurden 1910 uraufgeführt), in der es „wagnert“ und hier speziell auch sehr „parsifalt“. Seine Oper ist indes deutlich zu lang. Da müsste man beherzt den Rotstift ansetzen, vor allem im 1. Akt, der einfach nicht in Gang kommt. Ein größeres Ärgernis für heutige Ohren aber ist die Dichtung von Elsa Bernstein-Porges, deren gestelzt zusammengezimmerte Worte kaum noch zu goutieren sind. Insofern stellt sich allein aus diesem Grund die Frage: kann man das heute noch zeigen?
Dagegen singt und spielt das Personal auf der Bühne beherzt an. Der Kinderchor des Gymnasiums Paulinum (eine sichere Bank bei so vielen Opernaufführungen in Münster) steht immer wieder im Mittelpunkt und beherrscht auch das Spiel auf der Bühne - gleiches gilt für den Opernchor. Gregor Dalal und Youn-Seong Shim geben die Prototypen der Menschen aus Hellastadt, die nur auf das Äußere sehen. Sie sind als Holzhacker und Besenbinder prächtig bei Stimme. Das gilt auch für Wioletta Hebrowska als Hexe. Sie verschmilzt mit ihrem warmen Mezzosopran mit dem blühenden Zauberwald. Johan Hyunbong Choi ist der Spielmann und mit seinem überaus angenehm timbrierten Bariton bestens geeignet als Mittler zwischen den Welten.
Garrie Davislam als Königssohn dringt als Warner und Mahner nicht ganz durch. Dabei ist sein Tenor sehr klar, aber vielleicht ein wenig zu leicht. Anna Schoeck als Gänsemagd verfügt über eine raumgreifende Stimme, die ihre Sehnsucht nuancenreich zum Ausdruck bringt und - mit der gleichen Intensität - auch Verzweiflung.
Gut, dass es Henning Ehlert gibt. Mit dem Sinfonieorchester Münster setzt Münsters Kapellmeister ein Gegengewicht zur wuchtigen Partitur, indem die leisen, nachdenklichen Momente betont. Das Publikum lässt sich von ihm und allen Beteiligten betören und in die Märchenwelt entführen.