Frei, aber verkatert!
Als im Jahr 2018 die erste Staffel der Serie „Babylon Berlin“ in den ersten Programmen von Deutschland, Österreich und der Schweiz ausgestrahlt wurde, erlebten diese, bis dahin eher auf dem absteigenden Ast gewähnten, Sendeanstalten einen ungeahnten Hype. Ein Millionenpublikum ließ sich in die „Goldenen Zwanziger“ des vergangenen Jahrhunderts entführen und tauchte ein in ein Zeitalter des Traumas, der Gewalt, der politischen (Klassen-)Kämpfe und des ungebremsten Hedonismus Jener, die ihn sich leisten konnten. In eben diese Phase deutscher Geschichte zwischen den Weltkriegen verlegt nun Regisseur Jens-Daniel Herzog die Handlung von Händels Alcina. Ein Konzept, welches von Anfang bis Ende stimmig bleibt und neben den strahlenden Bildern auch durch seine Stringenz richtig viel Freude bereitet.
Noch während der Ouvertüre gelangen Bradamante und ihr Vertrauter Melisso auf der Suche nach ihrem Verlobten Ruggiero an die Pforte zu Alcinas Reich. Eine dunkle Backsteinmauer nimmt die Fläche der ganzen Bühne ein. Es regnet und nur eine kleine Lampe erhellt die Szene. Einschusslöcher sind unregelmäßig über die Mauer verteilt. Melisso trägt noch Uniform. Nachdem beide die Kleider getauscht haben, lockt eine Hand die beiden durch eine sich öffnende kleine Tür. Daraufhin öffnet sich die ganze Mauer und sie finden Einlass in Alcinas Welt des Exzesses und der Betäubung aller Sinne. Dort präsentiert sich auf der Bühne der Palast der Zauberin in feinstem Art Deco. Von den Lampen angefangen über die marmorne Kaminfassung bis hin zur Türklinke beweist Alcina offenbar einen Faible für Inneneinrichtung auf der Höhe der Zeit. Mittendrin gibt sich ihre Hofgesellschaft in Frack oder Abendkleid hemmungslos dem Rausch hin. Da fließt der Champagner in Strömen und auch für den prüdesten Zuschauer erschließt sich sofort, wie diese Abende für Paare in den unterschiedlichsten Konstellationen wohl in der Regel enden: Sex, Drugs und Da-Capo-Arien… Da träumt man sich als Zuschauer zunächst doch gerne ins Reich der Alcina!
Gewiss muss diese Traumwelt jedoch im Laufe der Handlung zerbrechen: Bradamante gelingt es Ruggiero, den Alcina verzaubert und sich als Favoriten erwählt hat, Stück für Stück zurückzugewinnen. Die Magie verfliegt und Alcina wird zunehmend machtlos in ihrem eigenen Reich. Ihre Grausamkeiten und ihr grenzenloser Egoismus werden aufgedeckt und der schöne Schein ist bald dahin. Immer wieder holt die Beteiligten außerdem die Erinnerung an die Vergangenheit ein. Der Krieg und die daraus resultierenden Traumata, Verletzungen und Verluste lassen sich eben doch nicht mit mit einer Flasche Dom Pérignon wegspülen.
Die ganze Ästhetik des Exzesses und des dramatischen Untergangs wird neben der Inszenierung vor allem transportiert durch ein durchweg exzellentes Ensemble an Sängerinnen und Sängern, ergänzt durch den barock-strahlenden Chor der Oper Bonn. In der Titelrolle vermag Marie Heeschen mit ihrem wandelbaren Sopran der Alcina in allen Lagen überzeugend ihre Stimme zu leihen: Verzaubernd, betörend, verfluchend und drohend. Absolut hörenswert! Charlotte Quadt und Anna Alàs i Jové stehen ihr als Ruggiero und Bradamante stimmlich jedoch in nichts nach. Das Trio weiß auch schauspielerisch umfassend zu überzeugen. Juan Sancho und Pavel Kudinov präsentieren ihre Tenor- und Basspartien als Oronte und Melisso mit viel Verständnis für Händels Musik und großer stimmlicher Flexibilität. In der Rolle der Morgana begegnet Gloria Rehm, gerade zu Beginn, der ein oder anderen intonatorischen Herausforderung, weiß diese aber im Verlauf des Stückes zu meistern. In der Nebenrolle des Oberto wurde Nicole Wacker zu einem Highlight des Abends. Was für eine Stimme! Strahlend und klar bis in höchste Höhen und ohne Scheu vor jeder Herausforderung.
Grundstein des gelungenen Abends: Das Beethoven Orchester Bonn unter der Leitung von Dorothee Oberlinger. Einfach Alles, was da aus dem Graben kommt, macht richtig, richtig viel Spaß und kann jeden Fan von Händels Musik nur erfreuen. Oberlinger selbst hat offenbar bestens mit Orchester und Ensemble geprobt, doch erschließt sich einem das, was sie mit den Händen tut, nicht immer. Egal: Erlaubt ist bekanntermaßen, was funktioniert und das tat es!
Die Choreografie von Ramses Sigl setzt dem ganzen dann noch im positiven Sinne die Krone auf. Unabhängig von der edlen Ästhetik erzählen die sechs Tänzer auch, wenn notwendig, die Handlung weiter, präsentieren Rückblicke, Ausblicke und geben manch nicht unbedingt beliebtem Da-Capo der Arien einen Sinn.
Nach dem Untergang des Reiches der Alcina machen sich die Helden übrigens von dannen. Zurück bleibt eine schwer verkaterte Gesellschaft, welche offenbar nichts so recht mit ihrer gewonnenen Freiheit anzufangen weiß. Sie stehen wieder vor der Backsteinmauer. Wieder im Regen. Als einer von ihnen einen Regenschirm aufspannt, wendet sich das Blatt. Sie haben einen neuen (An-)Führer gefunden…