Die Hexe und ihr Handlanger
Es blitzt und knallt im Märchenwald: Wenn nach der Pause die Hexe loslegt, lässt Regisseur Michael Schulz die Licht- und Toneffekte sprühen. Bis hin zu zwei Zusatzhexen, die kurz mal das Parkett des Musiktheaters im Revier erstürmen.
Dominieren in den ersten beiden Bildern der Oper Hänsel und Gretel noch die hübschen Ansichten eines Märchenwaldes, der im Gelsenkirchener Musiktheater schon dem „schlauen Füchslein“ Heimstatt bot, so präsentiert der finale Hexen-Akt eine unterhaltsame Modernisierung der altbekannten Motive. Leckereien gibt es zwar auch, doch die im Wald verirrten Kinder werden vor allem durch all die Plüschfiguren verführt. Denn das Lebkuchenhaus stellt sich auf Heike Scheeles Bühne als Barbiehafte Spielzeugschatulle dar, in der eine rosa Transe auf ihre Opfer lauert. Und in deren Unterwelt sich ein Maschinenraum auftut, der sowohl Öfen als auch jene gediegenen Wohnmöbel enthält, die schon das Heim von Hänsel und Gretels Eltern prägen.
Dem Intendanten Michael Schulz ist offensichtlich daran gelegen, publikumsträchtigen Märchenzauber in seiner Regie mit ein paar neuen Facetten zu verbinden. Das gelingt auch mit den wundersamen Tierwesen, die den Wald beleben, vor allem mit der hin- und hergleitenden Schnecke. Dass die Hexe, von Martin Homrich mit gleißenden Tenortönen ausgestattet, nicht verbrannt, sondern am Ende entmachtet vorgeführt wird, ist zweifellos sympathisch, teilt sich aber szenisch nicht ganz überzeugend mit. Dass „Gott der Herr“ aus dem Libretto verbannt wird, wirkt als ziemlich gezwungenes Zeitgeist-Zugeständnis. Interessant allerdings die Idee, eine Figur des „Namenlosen“ einzuführen, der als dunkler Kapuzenmann im Haus der Kinder auf Diebeszug geht und immer mehr als Handlanger der Hexe erkennbar wird. Die überraschende Erklärung, die das Publikum am Ende geboten bekommt, soll natürlich vorab nicht verraten werden.
Am Pult der fabelhaft aufgelegten Neuen Philharmonie Westfalen sorgt Dirigent Giuliano Betta für jenen kunstvoll-kindlichen Zauber, der das Stück neben seinem bekannten Stoff so zeitlos populär gemacht hat. Für die Kinderlied-Elemente wählt der Erste Kapellmeister angenehm zügige Tempi und einen betont leichten Duktus, um in den instrumentalen Teilen spätromantisch aufzutrumpfen. Zu den schönsten Facetten gehört die Zartheit, mit der Orchester und Sänger zentrale Stellen wie den Abendsegen entfalten.
Daran hat in der Premiere Sopranistin Heejin Kim entscheidenden Anteil - mit Silbersopran, gesanglichem Feinschliff und vorbildlicher Phrasierung ein Idealfall der Gretel. In ihrem Schatten gewissermaßen agiert Mezzosopranistin Lina Hoffmann als Hänsel ebenso überzeugend. Stimmstark präsentieren sich die Eltern (Almuth Herbst und Benedict Nelson), und Elia Cohen Weissert lässt als Sand- und Taumännchen aufhorchen. Auch der Kinderchor des Theaters und der Akademie für Gesang NRW (Einstudierung Zeljo Davutovic und Veronik Haller) hat ein bemerkenswertes Niveau. Wen stört es da schon, dass sie ohne Lebkuchenzaun-Vergangenheit auf die Bühne kommen? Großer Premierenapplaus in Gelsenkirchen: Der Advent kann kommen.