Kleine, große Lichtgestalt
Die Federn fallen, fallen wie von weit, als kämen sie aus einer fernen Sphäre. Sanft schweben sie von den Vogelkäfigen nieder, in denen die Frauen eingesperrt sind, die für den Teehausbesitzer Tong arbeiten: gefallene Engel, verkaufte Kreaturen. Weiß sind ihre Gewänder, weiß die Federn. Weiß leuchtet hier alles, was noch gut und recht sein kann in einer düsteren Welt.
Es waren finstere Zeiten, in denen der 62-jährige Alexander Zemlinksy 1933 seine letzte vollendete Oper Der Kreidekreis schrieb. Im alten Textgewand eines chinesischen Märchens steckend, ist sie eine typische Zeitoper der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Nach der Machtübernahme der Nazis verfiel sie - wie auch ihr jüdischer Komponist - der Verfemung. Regisseur David Bösch hat sie nun für die Rheinoper Düsseldorf in Szene gesetzt, zum ersten Mal in der Geschichte des Hauses.
Für sein Düsseldorfer Debüt greift Bösch gewissermaßen selbst zur Kreide. Mit liebevollem Strich zeichnet er den Lebensweg des Mädchens Tschang-Haitang nach, auf einer dunklen Spielfläche vor schwarzem Hintergrund. Von der Mutter verkauft, vom Teehausbesitzer weiterverkauft, als Nebenfrau eines Mandarins von dessen Erstfrau bekämpft und schließlich des Mordes bezichtigt, wird diese Figur bei ihm zu einer Lichtgestalt der bescheidenen Art: keine große Heldin und schon gar keine Rebellin, eher eine chinesische Butterfly.
Wie sie sich den Verhältnissen beugt, wie sie trotz aller Demütigungen ihre Würde bewahrt, wie sie in einer Welt voller Unrecht und Lüge aufrecht und wahrhaftig bleibt, steht mächtig - und durchaus irritierend - quer zum Kampf für Frauenrechte. Mit empathischem Blick arbeitet Bösch heraus, dass Tschang-Haitang nicht einfach unterwürfig ist, sondern sich auf ihre Weise behauptet, im märchenhaften Happy End sogar in eine Position der Stärke gelangt. Dass sie Prinz Pao glatt eine Vergewaltigung verzeiht, ist nur die halbe Wahrheit: Sie nutzt sein Geständnis für einen Deal, der ihr und ihrem Kind Sicherheit gewährt. Dann legt sie sich stolz seinen Königsmantel um. Böschs Inszenierung ist von dem Credo geprägt, dass selbst der Kleinste den großen Weltenlauf zu ändern vermag.
Die Regie fordert für dieses Märchen unseren kindlichen Blick. Strichmännchen aus Kreide, auf die Vorhänge zwischen den Akten projiziert, raffen die folgende Handlung zusammen. Das Kind, um das Tschang-Haitang mit der Erstfrau des Mandarins streitet, ist ein übermenschlich großes Riesenbaby mit einem Pappmaché-Kopf, wie Bert Brechts Meisterschüler Achim Freyer ihn seinen Bühnenfiguren zu geben pflegte. Gleich zu Beginn nimmt es auf der Bühne Platz und zieht den Kreidekreis um sich, aus dem beide Frauen das Kind herauszuziehen versuchen. Der salomonische Richterspruch ist auch aus der Bibel und aus Brechts Drama bekannt.
Bühne und Videos tragen uns aus dem Alltag fort. „Eine bessere Welt ist möglich!“ raunt nahezu alles, was wir sehen. Der Flügelschlag der Möwen, die als heller Schattenriss über den Bühnenhintergrund schweben. Die zarten Lampions in Blütenform, die auf der dunklen Bühne blühen. Die Kreideskizzen an den Wänden, die Kindheitstage heraufbeschwören. Und während das durch und durch korrupte Gerichtspersonal Papierfahnen entrollt, die Kindsraub, Vergiftung und Terror propagieren, schweben chinesische Schriftzeichen von der Decke, die hohe Ideale formulieren: Freiheit, Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit. Die Kostüme fügen sich perfekt in diese poetische Bühnensprache ein.
Das zwischen Schauspiel und Oper changierende Zwitterwerk zusammenzuhalten, ist keine leichte Aufgabe. Der Stilmix ist unerhört: Es gibt freie und rhythmisch gebundene Sprache, Gesang Brecht-Weill’scher Prägung, Jazzelemente, fernöstliches Kolorit, schwelgerisch romantische Orchesterfarben und Klänge einer neuen Sachlichkeit. Die Nahtstellen zwischen Text und Musik sind kritisch, das Timing ist für die Sängerinnen und Sänger folglich heikel. Aber die Quadratur des Kreises gelingt: Die Düsseldorfer Symphoniker und das Gesangsensemble der Deutschen Oper am Rhein ziehen die Linie bemerkenswert geschlossen durch.
Unter der kundigen Leitung des Dirigenten Hendrik Vestmann fügt sich die stilistische Vielfalt zu einem faszinierenden Abenteuer für die Ohren. Was fließt da nicht alles ineinander: Jazzelemente und fernöstliche Pentatonik, romantische Schwärmerei und lakonische Sachlichkeit, Drohendes und Intimes und Groteskes, Turandot-Wucht und Butterfly-Zartheit. Das differenzierte und expressive Spiel der Düsseldorfer Symphoniker gereicht Zemlinsky zur Ehre.
Durch Leitmotiv-Techniken wird das Orchester an diesem Abend zum Erzähler, zum unentbehrlichen Kommentator. Es gleicht einer tönenden Karikatur, wie es den korrupten Richter Tschu-Tschu ankündigt, der nach durchzechter Nacht die Szene betritt. So verkatert, wie das Fagott hier in höchster Lage wimmert, und so unstet, wie die Takte hier ins Taumeln geraten, ist bereits alles gesagt, bevor dieser höchst fragwürdige Amtsträger auch nur den Mund aufmacht.
Der Schauspieler Werner Wölbern verkörpert ihn nach allen Regeln der Kunst als anmaßenden, schlecht gelaunten Gierlappen, der keinen Funken Interesse am Schicksal derer hat, über die er zu Gericht sitzt. Der Prozess führt zu einer mächtigen Steigerung im Orchester, die sich drohend aufbäumt, und einem Verzweiflungsausbruch von Tschang-Haitang, die Lavinia Dames uns mit ihrem Sopran nahebringt. Wie die Sängerin eine stille Traurigkeit in ihre hellen Farben mischt, wie sie sich stimmlich biegsam zeigt, ohne in den dramatischen Höhepunkten zu brechen, gleicht einer vokalen Studie des Phänomens, das heute Resilienz genannt wird. Für diese anrührende Charakterstudie wird die Sängerin vom Publikum begeistert gefeiert.
Dames ist von einem Ensemble umgeben, das seine Figuren nicht weniger genau zeichnet. Die Frauenstimmen ergänzen ihre Farbpalette: Katarzyna Kuncio als Tschang-Haitangs Mutter mit entsprechender Wärme, Sarah Ferede als intrigante Erstfrau Yü-Pei mit hochfahrender Dramatik. Im Baritonfach glänzen Richard Sveda, der dem Bruder der Hauptfigur wütende und rebellische Töne gibt, und Joachim Goltz, der den Mandarin Ma auch stimmlich von starrer Autorität in einen weicheren, liebenderen Mann verwandelt. Hinzu kommen Matthias Koziorowski (als Prinz Pao mit teils heldischen Farben), Jorge Espino (als Gerichtssekretär Tschao mit abgerundet sonorem Volumen), sowie einige hübsch gestaltete Mini-Rollen.
„Es ist Zemlinksy-Zeit“, heißt es im Programmheft der Rheinoper: Eine Behauptung, die durch diese starke Premiere beglaubigt wird. Der Kreidekreis verdient unsere Aufmerksamkeit. Es ist Zeit für dieses Klangabenteuer, für dieses Werk, in dem die Schwachen die Starken sind und die Menschlichkeit gegen Gewalt und Lüge gewinnt.