Übrigens …

Orlando im Köln, Oper

Im Genderwahn an der Schreibmaschine

Viele Spuren hat der rasende Roland, stärkster Ritter im Heer Karls des Großen, in der Kunst hinterlassen. Im Roman „Orlando - eine Biographie“ von Virginia Woolf kommt er als Junge zur Welt, macht als Frau Karriere und lebt rund 350 Jahre lang. Das Buch zeichnet ein Sittengemälde der englischen Gesellschaft und gehört zu den kanonischen Texten der Frauenbewegung. Für das Festival Peralada im Nordosten Spaniens hat Rafael R. Villalobos die Oper Orlando von Georg Friedrich Händel als Hommage an das literarische Universum der Autorin inszeniert, die sowohl Männer als auch Frauen liebte. Die Produktion ist jetzt auch in Köln zu sehen.

Der Versuch der Regie, eine Verbindung zwischen dem 1928 erschienenen Roman und der 1733 uraufgeführten Oper herzustellen, führt im Programmheft zu einigen verbalen Verrenkungen und auf der Bühne zu Figuren, die sich in doppelgeschlechtlichen, mithin genderneutralen Kostümen durch einen abstrakten schwarzweißen Raum bewegen. Boden und Spiegeldecke haben Dreiecksform und laufen spitz aufeinander zu. Das ist als szenischer Ausdruck für die komplexe Beziehung zwischen Dorinda, Medoro und Angelica gedacht. Die Dreiecksspitzen lenken den Blick auf einen mit Büchern und Leselampe bestückten Schreibtisch, lange das einzige Requisit im Raum. Für Orlandos Schlafszene wird später noch ein Bett aus dem Boden geklappt.

Die Regie formt aus Händels Orlando eine Reflexion über den literarischen schöpferischen Akt. Damit legt sie sich selbst eine Fußangel, weil sich Gedankenarbeit kaum auf der Bühne darstellen lässt. So umkreisen die Sängerinnen und Sänger den Schreibtisch, fuchteln manchmal mit einem Schwert oder zerpflücken einen Blumenstrauß. Zuweilen darf der Held auch ein paar Buchstaben in die Schreibmaschine tippen. Der Abstand zu einer halbszenischen Produktion ist da nicht groß, denn wer die Augen schlösse, hätte nicht viel verpasst. Die Handlung vermittelt sich mehr über die Lektüre des Programmhefts als über das Bühnengeschehen.

Obwohl die Regie sich bemüht, die Beziehungen zwischen den Figuren durch Personenführung herauszuarbeiten, gewinnen diese wenig Leben. Sie sind gedanklich überfrachtet: Dorinda, Medoro und Angelica müssen zugleich Virginia Woolf, ihre Geliebte Vita Sackville-West und deren Partnerin Violet Trefusis sein. Obwohl durch verschiedenfarbige Kostüme voneinander abgesetzt, gewinnen sie kaum Kontur. Indem Villalobos stark auf dieses weibliche Dreieck fokussiert, wird die Rolle des Titelhelden unscharf. „Wer also ist Orlando?“, fragt sich der Regisseur im Programmheft selbst, findet darauf aber sichtlich keine Antwort. Stattdessen verspiegelt er die Decke. Alles nur Projektion? Zudem baut er weitere Verweise auf die Werke von Virginia Woolf ein (Mrs. Dalloway, The Waves, A room of one’s own). Einer klaren Sicht auf Händels Werk ist das nicht zuträglich.

Vom Primat der Musik lenkt an diesem Abend wenig ab, was seine positiven Aspekte hat. Denn das Gesangsensemble und das Gürzenich-Orchester Köln gönnen dem Publikum unter der Leitung von Rubén Dubrovsky ein wunderbares kleines Barockfest. Der Dirigent, Mitbegründer des Bach Consort Wien und des Chicagoer Ensembles Third Coast Baroque, das sich in diesem Jahr aufgrund der prekären Finanzsituation aufgelöst hat, animiert alle Beteiligten zu einem sinnenfreudigen, geist- und lebensvollen Musizieren, das die Aufmerksamkeit des Publikums stets bei der Stange hält.

Das Gürzenich-Orchester macht seine Sache brillant. Die Blockflöten weben ihre Farben ein, rasche Läufe in den Violinen zünden wie kleine Raketen, feine Triller der Streicher funkeln mit den Continuo-Klängen von Spinett und Langhalslaute (Theorbe) um die Wette. Durch punktierte Rhythmen geht es wie Starkstrom, wenn der rasende Roland seinem Namen Ehre zu machen beginnt. Zudem gibt es viele kostbare Ruhemomente, in denen Händels Musik ihre Schwingen ausbreitet: Jene Arien mit ihren langen, in edle Melancholie getauchten Bögen, die oft zum schieren Suchtstoff für die Ohren werden.

Mit dem Countertenor Xavier Sabata ist die Rolle des Titelhelden prominent besetzt. Der Katalane turnt nicht nur vokal artistisch durch alle Koloraturklippen der Partie, sondern schlägt auf der Bühne sogar gekonnt ein Rad. Besonders schön gelingen ihm nachdenkliche Arien, die er in die gedeckten Farben der Trübsal taucht. Wenn er harmonische Vorhalte genießt, ihre Auflösung gleichermaßen herbeisehnend wie hinauszögernd, schlägt der zweischneidig-androgyne Reiz auch das Publikum in den Bann.

Als Magier Zoroastro darf Gianluca Buratto seinen profunden Bass zunächst nur aus dem Off einsingen: Seine untere Gesichtshälfte wird per Video zugeschaltet, bevor er für das glückliche Finale höchstpersönlich die Bühne betritt. Xavier Sabata ist in Köln von einem ausdrucksstarken Frauentrio umgeben. Da ist die Dorinda/Virginia von Maria Koroleva, silberhell, beweglich und höhensicher. Da ist Sabina Puértolas, vom spanischen Musikfest als Angelica/Violet eingesprungen, die etwas dramatischere Farben entgegensetzt und zusätzlich zu den Höhen in beachtliche Tiefe hinunter reicht. Dritte im Bunde ist die deutsch-kolumbianische Mezzosopranistin Adriana Bastidas-Gamboa, die der Hosenrolle von Medoro/Vita mit empfindsamen Farben Profil abgewinnt. Der Applaus fällt in der Folgevorstellung nach der Premiere herzlich, aber vergleichsweise kurz aus.