Übrigens …

La Bohème im Theater Münster

Strahlende Stimmen im maroden Kaufhaus

Das große Kaufhaus „Giacomo“ hat die besten Zeiten hinter sich. Im ausgeräumten, ungeheizten Obergeschoss durfte sich mittlerweile eine Künstlerclique einnisten. Unten herrscht an Heiligabend zwar noch einmal Hochbetrieb, doch das glitzernde Kommerzgewusel unter dem legendären Lampenschmuck des Stadttheaters ist zugleich Abschiedsparty: Am Ende kommen die Bagger.

Eine behutsam erneuerte Szenerie für La Bohème haben Regisseurin Effi Méndez und ihr Team fürs Theater Münster ersonnen. Muss man nicht so machen, kann man aber, weil das Stück nun zwanglos im Hier und Jetzt spielt. Dem kleinen Störfaktor des gegen Giacomo Puccinis Musik anzappelnden Kioskverkäufers im dritten Bild stehen interessante Details gegenüber: So fängt der hungernde Dichter Rodolfo immer gleich zu schreiben an, wenn ihm menschliche Schicksale geschildert werden - offenbar ein Geisterverwandter des Komponisten Puccini, der die Geschichten leidender Frauen zu herzergreifenden Opern verarbeitet hat.

Seine berühmteste Femme fragile ist zweifellos Mimì, die als scheue Schönheit mit frierenden Fingern eben jenen Rodolfo in Liebe entflammen lässt. Dem Premierenpublikum in Münsters Großem Haus erging es kaum anders, nachdem Sopranistin Marlena Devoe ihre ersten Töne gesungen hatte: welch schöner, dunkel grundierter lyrischer Sopran, welch elegante Stimmführung! Generalmusikdirektor Golo Berg, der die Bläser des Sinfonieorchesters Münster zuvor keck miteinander hatte wetteifern lassen, schaltete beim Auftritt der Heldin auf innigsten Streicherklang, um der Stimme das feinste Klangbett zu bieten. Und er ließ sich Zeit, um die Klänge zu entfalten: Sowohl Rodolfo als auch Mimì konnten in ihren großen Arien allen Stimmglanz aufbieten, mussten fast schon aufpassen, ihre Gesangsphrasen nicht den Atemzäsuren zu opfern. Da sich auch Tenorheld Garrie Davislim in bester Form präsentierte und seinen Spitzentönen im Forte zu großem Glanz verhalf, bekam das Publikum den vollen Puccini-Rausch.

Berg kostete all die Möglichkeiten und Stimmungskontraste, die Giacomo Puccinis Partitur bietet, genussvoll bis zum beherzt verzögerten Beckenschlag aus, und die Inszenierung schuf ihm dafür die idealen Bedingungen mit einem Bühnenbild und einer Personenführung, die die Sänger ins rechte Rampenlicht rückte. Das zeigte sich besonders effektvoll im üppigen Chortableau des zweiten Bildes, dessen vorweihnachtlicher Trubel von Effi Méndez ebenso umsichtig gelenkt wurde wie die aus Not geborene Lustigkeit der Bohemiens in den Rahmenbildern. Nicht ganz so überzeugend gelang szenisch die winterliche Tristesse des dritten Bildes, was aber durch dessen Schluss mit der Videoprojektion einer nächtlichen Großstadtszene wieder aufgefangen wurde. Dass die sterbende Mimì am Schluss direkt vor den Augen des Publikums platziert war, wirkte zwar nicht gerade dezent. Aber erlaubt ist, was musikalisch gelingt.

Neben dem Protagonistenpaar und den wuchtigen Chören begeisterten auch die Bohemiens mit den tiefen Stimmen (Johan Hyunbong Choi als Marcello, Gregor Dalal als Schaunard, Kihoon Yoo als Colline) sowie die übrigen Ensemblemitglieder. Robyn Allegra Parton bekam von der Regie ein Handmikrofon für die Arie der Musetta verpasst: ein netter Gag. Großer, einhelliger Premierenapplaus.