Übrigens …

The Listeners im Essen, Aalto-Theater

Die Suche nach dem Weg hinaus aus dem Wahnsinn

Das kann einen wahnsinnig machen: ein tiefer Brummton im Kopf. Tag und Nacht. Immer präsent. Ohne Schalter zum Abstellen! Claire leidet unter so einem niederfrequenten Klangereignis. Und sie leidet ganz allein. Für ihre Umwelt nämlich, ihre Mitmenschen, ist das Brummen nicht hörbar. Kein Wunder, dass Paul und Ashley, Claires Partner und ihre Tochter, an Claires Verstand zweifeln. Da kann offenbar nur ein Psychiater helfen, ein guter. Wäre da nicht ein Leidensgenosse! Auf einen solchen nämlich stößt Claire, die Mathematiklehrerin, in ihrer Schulklasse: Kyle wird von demselben Phänomen (the global hum?) geplagt. Nun wissen beide, dass sie nicht spinnen, das Brummen vielmehr real zu sein scheint.

Dies der Beginn der Erzählung The Listeners von Jordan Tannahill, 2021 erschienen und umgehend in eine zweiaktige Oper verwandelt, wofür die amerikanische Komponistin Missy Mazzoli auf das von Royce Vavrek erarbeitete Libretto zurückgriff. Die Uraufführung besorgte das Opernhaus Oslo im September 2022, jetzt ist die deutsche Erstaufführung in Essen zu erleben.

Geteiltes Leid ist halbes Leid. Oder anders ausgedrückt: als Kyle im Netz so etwas wie eine Selbsthilfegruppe vom Brummen Betroffener findet und er sich zusammen mit Claire dieser anschließt, läuft ein Prozess der Befreiung. Claire öffnet sich, legt Vertrauen in die Gruppe (The Listeners?), vor allem in Howard Bard, dem sie bald mehr als nur freundlich zugewandt ist. Bard ist der Anführer der Gruppe, ein alter weißer Mann mit geradezu klischeehaft vor sich her getragener Guru-Attitüde. Alle Nase lang werden zu bedächtigem Schreiten die Arme weit ausgebreitet, fernöstlich inspirierte Musik säuselt, Kerzchen werden entzündet... Das alles wirkt über weite Strecken wie ein allenfalls mittelprächtig gemachter amerikanischer Kinostreifen, ist von Regisseurin Anna-Sophie Mahler aber vermutlich Ernst gemeint. Auch die knalligen Bilder jener dramatischen Situation, als Dillon - ein Sektenmitglied, das immer mehr zweifelt an der heilsam scheinenden Wunderkraft des Meisters - mit Waffen herumfuchtelt und am Ende einen Polizeieinsatz auslöst. Ergebnis: Howard Bard wird als Lügner enttarnt, als Verführer. Claire ist es nun, die sich an die Spitze der Bewegung setzt und damit auch Angela aussticht, die bis dahin eigentlich das Erbe? Howards antreten sollte, dessen Gunst aber schon zuvor verloren hat. Offen bleibt, ob Claire am Ende tatsächlich Howards ehemalige Gefolgsleute in eine wie auch immer geartete Zukunft führt - oder doch allein bleibt. Missy Mazzolis Oper lässt diese Frage offen...

Offen bleibt auch, was dieses Musiktheater sagen möchte: ist es ein Stück über die Verführbarkeit von Massen? Über die Emanzipation einer Frau von bürgerlichen Konventionen? Geht es um die Suche nach Freiheit? Eigentlich um etwas von allem...

Und die Musik der 44jährigen US-amerikanischen Komponistin, die in den Staaten recht erfolgreich ist? Sie entwickelt durchaus Suggestionskraft, untermalt die Szenerie eher als sie eigenständig zu kommentieren, gibt sich dank des großen Orchesterapparates farbig, bietet aber nicht unbedingt viel originelles Material. Dafür umso mehr Akteure auf der Bühne: neben dem Opernchor verlangt Mazzoli nicht weniger als neun Hauptdarsteller:innen, fünf Nebenrollen sowie weitere sechs Solo-Stimmen aus dem Chor. Hier kann Essens Aalto-Theater punkten, denn sämtliche Beteiligte agieren ausnahmslos auf allerbestem Niveau, sängerisch ebenso wie darstellerisch. Dies allein verdient Riesen-Respekt, mal abgesehen von dem Mut, eine solche deutsche Erstaufführung auf den Spielplan zu setzen!