Übrigens …

Jolanthe & Der Feuervogel im Theater Hagen

Vom Spielparadies ins Versuchslabor

Die kleine Jolanthe möchte aus dem Spielparadies abgeholt werden“: So mochten die Zuschauer im Theater Hagen angesichts des Bühnenbildes denken. Tummelt sich die Titelfigur von Peter Tschaikowskys letzter Oper doch in einem stilisierten Kubus, in den lauter Möbelstücke hineinhängen, und baut sich darin aus kleinen Tischen eine Burg. Putzig, es fehlen bloß die bunten Bälle.

Dass diese junge Frau seit frühester Kindheit blind ist, versucht die Regie erst gar nicht zu zeigen, sondern belässt es bei der schlichten Symbolik des umgrenzten Raumes. Dabei ist es doch so spannend, wie Jolanthe eigentlich das Naturparadies, in dem sie ihr Vater fürsorglich belagernd verbirgt, über alle anderen Sinne erfährt: Sie hört, riecht, fühlt und schmeckt. Ihrer Blindheit wird sie sich erst bewusst, als ein männlicher Eindringling von den Schönheiten der sichtbaren Welt erzählt. Das wollte der Vater zwar vermeiden, wird aber vom herbeigeholten Arzt belehrt, wie entscheidend die Aufklärung für den Heilungsprozess des einst traumatisierten Mädchens ist.

Die Natur-Poesie im Libretto des Tschaikowsky-Bruders Modest führt viel direkter zum psychologischen Kern des 90-minütigen Einakters als das Regie-Spiel mit kindlichen Symbolen, die am Ende erwartungsgemäß abgeräumt werden - zumal der Komponist rund um das Blumenmotiv zwei herrliche Ensembles geschrieben hat. In der Regie Isabel Ostermanns kann sich aber nur das Protagonistenpaar Angela Davis und Anton Kuzenok über sein zentrales Sopran-Tenor-Duett hinaus auch spielerisch profilieren; Bariton Insu Hwang als exotischer Arzt etwa gestaltet seinen Part vokal elegant, darf aber in der Heilungsszene mit Jolanthe nur im Hintergrund herumsitzen. Und wenn zum erlösenden Ende der Chor auftritt, wirkt es fast, als hätten sich Beethovens Fidelio-Gefangene fürs oratorische Finale aufgestellt.

Am Theater Hagen hatte man die feine Idee, Tschaikowskys reizvolles Spätwerk mit einem Tanzstück nach Strawinskys Feuervogel zu kombinieren. Eine engere Verbindung indes gibt es nicht, auch wenn die Ausstattung beider Stücke von Julia Burkhardt stammt. Doch wo die recht unbekannte Oper „nur“ optisch in die Gegenwart geholt werden soll, da entkernt Choreograf Francesco Nappa das Feuervogel-Ballett komplett und füllt den Rahmen, den der Komponist mit seiner um eine Viertelstunde gekürzten 1945er-Version setzte, mit einem eigenen Stück. Einer Dystopie, die vom „Feuervogel“ vor allem die rote Gestalt und einen kurzen Feuer-Moment entlehnt. Aber welch ein Unterschied: Die Titelfigur mitsamt ihrer Klone ist ein brutal gehäutetes, geschundenes Wesen; sie werden in Käfigen gehalten und in einem kühlen Laborraum von einem silbergrauen Wissenschaftlerschwarm missbraucht. Das ist auf den ersten Blick weder schön noch originell, und man würde sich bisweilen gerne abwenden - hätte Nappa nicht einzelne faszinierende Tanzszenen geschaffen, die einen kurzen Sog entwickeln. Sie kulminieren im Kampf zur Musik des Zauberers Kastschei - kein Wunder, dass nach dieser halben Stunde großer Applaus ausbrach.

Musikalisch lag der Premierenabend zumindest zu drei Vierteln in besten Händen. Denn im letzten Viertel, dem Strawinsky-Teil, musizierte das Philharmonische Orchester Hagen unter der Leitung seines Ersten Kapellmeisters Rodrigo Tomillo zwar effektvoll, aber vom fast buchstabierten Beginn bis zur etwas gezackten Finalversion nicht so elegant wie vor der Pause. Dort nämlich zeigte Tomillo ein sehr gutes Händchen für Tschaikowskys Finessen, für kleine Verzögerungen, für die Farbenvielfalt der Holzbläser. Auch angesichts der guten Chorleistung ein wirkliches Plädoyer für Tschaikowskys Einakter.