Schachzüge im Zeichen der Macht
Schach wird auch das Spiel der Könige genannt. Hier geht es genau wie in der Politik um schnelle, überraschende Aktionen wie auch um langfristige Strategien. Da liegt es nahe, dass der Intendant des Theaters Hagen, Francis Hüsers, Schachbrett und -figuren als Basis für seine Interpretation von Verdis Don Carlos bestimmt. Denn hier wird mit Menschen - oft auch ohne deren Zutun - Politik gestaltet. Ein Mensch bedeutet einem Herrscher oft nicht mehr als eine Figur aus Elfenbein im königlichen Spiel. Und so geht es auch König Philipp von Spanien, dem es gerade sinnvoller erscheint, die Braut seines Sohnes selbst zu heiraten. Da kann keine Rücksicht genommen werden auf die Gefühle des Thronfolgers, der sich bei einer Begegnung mit der französischen Königstochter sofort in sie verliebt hatte. Das zählt nicht: Sofort nach der Hochzeit wird Elisabeth in die Reihe der weißen Spielfiguren des Königs integriert und ist von nun an Teil der außen- wie der innenpolitischen Bemühungen des Königs. Im Inneren droht die schwarze Anhängerschaft des Großinquisitors, kirchliche Interessen dem König aufzuoktroyieren.
Aber auch die großen Gefühle kommen bei Hüsers nicht zu kurz. Quasi subversiv drohen sie, Strategien zu unterlaufen und zunichte zu machen, da sie nicht immer zu kontrollieren sind.
Um in Frankreich erfolgreich zu sein, komponierte Verdi eine fünfaktige Fassung inklusive Ballett, um dem Publikum eine Grand Opéra zu bieten, die den Gewohnheiten französischer Oper entspricht. Die wählt Hüsers für seine Interpretation des Don Carlos. Daran tut er gut, denn sie wird weniger durch aufpeitschende Emotionen dominiert, denn durch eine sanfte Melancholie, die über dem Geschehen liegt. Da kann die Ratio umso grausamer zuschlagen. Mathis Neidhardt baut ein Schachbrett mit leichtem Gefälle auf die Bühne, das umgeben wird von Wänden, die - perfekt für den Süden - wenig Licht durchlassen, aber auch wenig nach außen von dem, was innen passiert.
Musikalisch ist das Theater Hagen für diese Produktion gut aufgestellt. Da bleiben nur wenige Wünsche offen. Julian Wolfs Chor ist stimmlich wie darstellerisch absolut präsent. Alle kleineren Rollen ergänzen das gute Ensemble auf einem hohen Niveau.
Dong Won Seo bleibt als Großinquisitor eher blass und wenig furchteinflößend. Als vorwitziger Page Thibault im Springerkostüm lässt sich Ofeliya Pogosyan mit neckisch dahin getupften Tönen auf ein munteres Duett mit der Prinzessin Eboli ein. Die wird herausragend interpretiert von Almerija Delic. Delic stellt sich gegen das starre Zeremoniell und versucht auszubrechen, Individualität zu zeigen. Das gelingt ihr stimmlich perfekt, indem sie die ganze Klaviatur ihres Mezzosoprans ausreizt und so eine riesige Skala von Emotionen auf die Bühne bringt.
Insu Hwangs Marquis Posa entfacht zwar kein großes Emotionsfeuerwerk, punktet dagegen mit seinem in allen Lagen ausgeglichenen Bariton. Bei Caterina Meldolesis Elisabeth sitzt jeder Ton perfekt. Renatus Mészár vermag dem Herrscher, der alle Fäden in den Händen halten will, durchaus Statur zu geben. Kazuki Yoshidas Titelfigur singt toll - auf seinen Tenor ist Verlass. Joseph Trafton und die Hagener Philharmoniker verwechseln Verdi-Feeling bisweilen mit zu viel Lautstärke, tragen aber die Produktion gediegen durch den Nachmittag. Francis Hüsers gelingt eine Verdi-Interpretation ohne Brüche, die absolut konsistent ist. Dieser Don Carlos ist einen Besuch in Hagen wert.