Schreckliches aus dem Schiffsbauch
Bis zu ihrem Tod am 8. August 2022 hat Zofia Posmysz alle Neuproduktionen von Mieczys?aw Weinbergs Oper Die Passagierin besucht, die auf ihrem gleichnamigen Roman fußt. Auch in Gelsenkirchen war sie persönlich anwesend, Ende Januar 2017, als das Stück über eine ehemalige KZ-Aufseherin am dortigen Musiktheater Premiere hatte. Beim Schlussapplaus betrat sie die Bühne, mit über 90 Jahren immer noch aufrecht, und das Premierenpublikum erhob sich wie auf Knopfdruck angesichts dieser Frau, die zu den letzten Überlebenden des Holocaust zählte.
„Wenn das Echo ihrer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde“, haben Weinberg und sein Librettist Alexander Medwedew dieser Oper als Motto vorangestellt. Weil im Jahr 2025 kaum noch Zeitzeugen leben, um von der Vergangenheit zu erzählen, will das Theater Krefeld/Mönchengladbach ein Zeichen setzen. Es feiert das 75-jährige Bestehen der deutschlandweit ältesten Theater-Ehe mit einer Neuproduktion von Weinbergs Zweiakter.
Der wirkt deshalb so beklemmend, weil er Erinnerungen aus dem Vernichtungslager episodenhaft in die Nachkriegswelt einbrechen lässt. Lisa, einst KZ-Wärterin, reist mit ihrem Mann nach Brasilien, um dort ein neues Leben zu beginnen. Auf dem Transatlantikschiff glaubt sie eine Passagierin wiederzuerkennen: Es ist Marta, eine der Frauen, die in Auschwitz inhaftiert waren. Verstört gesteht Lisa ihrem Mann, der bis dahin nichts von ihrer Vergangenheit ahnte, welche Erinnerungen sie nun überfluten.
Gewiss wäre zum Geburtstag auch leichtere Kost denkbar gewesen. Aber Operndirektor Andreas Wendholz verteidigt die Entscheidung: „Es ist auch unsere Aufgabe als Theater, wach auf die Gesellschaft zu schauen und Haltung zu zeigen.“ Für die in sieben verschiedenen Sprachen aufgeführte Fassung (es gibt deutsche Übertitel) hat das Theater eine Genehmigung des Verlags eingeholt.
Die Passagierin in die Hände der israelischen Regisseurin Dedi Baron zu legen, erweist sich bei der Krefelder Premiere als glückliche Wahl, obwohl Baron bislang vorwiegend am Schauspiel inszeniert hat. Sie fasst den heiklen Stoff behutsam an und stellt viele Fragen, statt moralisierend den Zeigefinger zu erheben. Als Schriftzug auf die hintere Bühnenwand projiziert, machen diese uns um Antworten verlegen: „Wann wird Erinnerung zur Verantwortung? Wann zur Last? Ist Gehorsam nur ein Befehl oder eine Entscheidung?“
Stark gelingt diese Neuproduktion, weil die Regisseurin offenbar eng mit Kirsten Dephoff zusammengearbeitet hat, die für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet. Sie hat einen doppeldeutigen Raum geschaffen, dessen stählern-anonyme Wände mit rostbrauner Patina ebenso ein alter Schiffsbauch sein könnten wie ein Bunker oder Todestrakt. In Reih und Glied angeordnete Liegestühle für die Passagiere wecken Assoziationen an die engen Schlafkojen der KZ-Insassen. Die Inszenierung kommt auch ohne SS-Mäntel aus: Dass die Schiffsbesatzung Uniform trägt, genügt.
Diese Bühne hat einen ästhetischen Reiz, ohne irgendetwas zu verharmlosen. Die Beleuchtung wechselt zwischen hellem und schummrigen Licht, um das aktuelle Geschehen von Lisas Erinnerungsschüben zu unterscheiden. Baron und Dephoff genügen Andeutungen, um das Grauen greifbar werden zu lassen. Schuhe stehen paarweise auf der Bühne und werden vom Bordpersonal zusammengefegt wie Müll. Wo die dazugehörigen Menschen geblieben sind, erklärt sich ohne Worte. Zahlen werden ausgerufen: Hier haben Menschen keine Namen mehr, sondern werden zu Nummern in einer Bürokratie des Todes.
Wenn Martas Verlobter Tadeusz, ein Musiker, dem Lagerkommandanten seinen Lieblingswalzer auf der Geige vorspielen soll, steht er nackt auf der Bühne. Aber auch in dieser Szene geht die Regie behutsam vor: Sie führt den Sänger nicht vor, liefert ihn nicht zudringlichen Blicken aus. Er steht mit dem Rücken zum Publikum. Zugleich wird sein Versuch, die Schamregion mit dem Instrument zu verdecken, zum schrecklich gelungenen Sinnbild für Demütigung, ja völlige Entwürdigung.
Der Größenunterschied zwischen den beiden Hauptdarstellerinnen ist erheblich. Eva Maria Günschmann (Lisa), hochgewachsen und schlank, hat Sofia Poulopoulou (Marta) eine kleine, aber kraftvolle Gegenspielerin. Die Regie geht auch damit geschickt um: Obwohl sie Lisa in einer Position absoluter Macht zeigt, wächst Marta ein Format zu, das sich nicht in Zentimetern misst. Alle inhaftierten Frauen sehen ihr in dieser Produktion ähnlich, aber die Regie nimmt Katja, Vlasta und Yvette deshalb nicht ihre Identität. Die Kräfte der Anziehung und Abstoßung zwischen den Figuren, ihre Liebe, ihr Hass, ihr verzweifelter Überlebenswille sind fast mit Händen zu greifen.
Mit dröhnenden Paukenschlägen beginnt diese 1968 vollendete Oper, in der vieles zusammenfließt. Katastrophische Klänge mischen sich mit Zitaten von Unterhaltungsmusik, kammermusikalisch Feines steht neben Ausbrüchen von bohrender Intensität. Die Niederrheinischen Sinfoniker engagieren sich unter der Leitung ihres langjährigen Chefs Mihkel Kütson entschieden für Weinbergs farbige, illustrative Partitur. Was da aus dem Orchestergraben tönt, ist weit mehr als Schostakowitsch-Epigonentum: Diese Musik ist facettenreich, atmosphärisch dicht, mit Ausdruck bis zum Haarsträuben aufgeladen.
Schaurig beschwört der von Michael Preiser gut einstudierte Opernchor die „schwarze Todeswand“. Die Regie setzt ihn als braun gewandete Masse in Szene, die teils bedrohlich auftritt, teils unbewegt zuschaut, hinter Gesichtsmasken verborgen. Die Solistinnen und Solisten setzen dem vokal die Krone auf. Die vier Wichtigsten seien stellvertretend erwähnt: zunächst als Gast Jan Kristof Schliep, der Lisas Ehemann Walter als Anti-Heldentenor verkörpert, der vor allem um seine Karriere fürchtet. Dann Rafael Bruck, der für Martas Verlobten Tadeusz anrührend warme und sonore Farben findet.
Überstrahlt wird alles von einem ungleichen, aber starken Frauenduo. Eva Maria Günschmann (Lisa) treibt ihren Mezzosopran zunehmend in eine flackernde Nervosität hinein. Ihr differenziertes Rollenporträt reicht von Tönen wehleidigen Selbstmitleids („Wir Deutschen sind ja sentimental“) bis zu zynischer Kälte, wenn sie Marta für vermeintliche Wohltaten auch noch Dankbarkeit abverlangt.
Die an Körpergröße Kleinste ist an diesem Premierenabend die Größte: Der Sopran von Sofia Poulopoulou kennt hochfahrenden Hass und melancholische Todessehnsucht, strömt im Rendezvous der Liebenden zudem frei und voller Wärme. Die zarten, erinnerungsseligen Piano-Abstufungen, die sie in der Höhe erreicht, klingen ähnlich lange nach wie der letzte Schriftzug, den die Regie auf die Bühnenrückwand projiziert: „Die Vergangenheit ist ein Spiegel. Die Zukunft ist unsere Wahl.“