Übrigens …

La Traviata im Detmold, Landestheater

Auf der Suche nach sich selbst

Violetta wirkt fast wie ein Zirkuspferd in dieser recht mondänen Welt. Das Halbrund nach Art einer Arena, wie es hier auf der Bühne steht, lässt diese Assoziation zu. Rings um sie herum eine geifernde Menge, vor allem Männer, die sich an der attraktiven Frau aufgeilen, Polaroid-Fotos von ihr machen. Wer Violetta haben will, braucht eigentlich nur - Geld. Denn für Geld ist alles zu haben. Auch Liebe, auch ein Körper, ein Mensch.

In Verdis La Traviata wird gezeigt, wie eine Frau sich diesem (kapitalistischen) System zu entziehen versucht, in das sie, anfangs ein Mensch wie Du und ich, hineingeschubst wird - und mit diesem Versuch letztlich scheitert. Dass Violetta organisch krank ist (an Tuberkulose leidet), ist für Regisseurin Vivien Hohnholz eigentlich zweitrangig oder gar irrelevant. Violetta nämlich stirbt - so ein Satz von Hohnholz im Programmheft der Inszenierung - „weil der Tod zwangsläufig die letzte Konsequenz war aus diesem schon so verbrauchten Leben.“

Sich diesem Leben vor den Augen der Gesellschaft, von dem ihr klar wird, dass es sie selbst zunehmend verbraucht, trachtet Violetta sich zu entziehen. Alfredo scheint da einen Weg aufzuzeigen, weil er sie wirklich und ernsthaft liebt. Die Flucht der beiden in ein hermetisch geschlossenes kleines Häuschen irgendwo jenseits des großen Getümmels verspricht eine Perspektive. Doch jetzt ist es Alfredo, der die aus ihrem Kurtisanendasein sich lösen wollende Frau in die Rolle des Landeis presst. Wieder keine Selbstfindung, keine Chance auf Individualität. Und zu allem Überfluss kommt auch noch Alfredos Vater Giorgio, dem es allein um so etwas wie die vermeintliche „Ehre“ der Familie geht und penetrant darauf drängt, die Liebelei zu beenden - worauf Violetta sich einlässt!

Was bleibt (ihr) also? Vivien Hohnholzers Lesart angesichts der Tatsache, das Violetta mit einer Pistole hantiert: entweder schießt sie auf ihre Umgebung - oder bringt sich selbst um. Beides wäre möglich...

Hohnholzers Inszenierung lässt Fragen offen, lädt aber auch ein zum Nachdenken über Strukturen von Macht und Geld und deren Einfluss auf Identitätsfindung und -bildung.

Musikalisch gerät die Spielzeiteröffnung im Landestheater Detmold zu einem ganz großartigen Erlebnis. Schon gleich zu Beginn, wenn GMD Per-Otto Johansson die Streicher in höchster Höhe melancholisch (und mit absolut sauberer Intonation!) flirren lässt, er wenig später die mittleren und tiefen Streicher balsamisch einfügt. Das zeitigt Gänsehaut! Und setzt sich den ganzen Abend über fort. Akkuratesse, Spannungsgeladenheit, lyrischer Schmelz - Johansson kann mit dem Symphonischen Orchester des Landestheaters aus dem Vollen schöpfen. Und verfügt über ein Solist:innenensemble, das von der kleinen bis zur großen Rolle keine Wünsche offen lässt. Aleksandra Szymd in der Titelrolle spielt und singt grandios, vor allem dort, wo es um die zarten, verhaltenen Töne geht (I strani, ...): ein leuchtender Sopran ohne jede Schärfe und mit präzis fokussierten Spitzentönen. Ji-Woon Kim ist ein durch und durch glaubwürdiger Alfredo mit einem wunderschön baritonal gefärbtem Tenor - leidenschaftlich, aber nirgends larmoyant, schon gar nicht „krachend“. Jonah Spungin gibt den Vater Giorgio Germont mit raumgreifendem Bariton und gebieterischer Attitüde - ein perfekt ausgefülltes Rollenporträt. Opernchor und Extrachor? Ganz formidabel und mit großem Engagement bei der Sache. Ein rundum erfreulicher Saisonstart in Ostwestfalen-Lippe: für das Haus - und gleichfalls für die neue Intendantin Kirsten Uttendorf.