Übrigens …

We are the lucky ones im Bochum, Jahrhunderthalle

Tanz im Kreis um keine Mitte

Bei Maurice Ravel weiß man, wie es ausgeht: In seinem choreographischen Poem „La Valse“ zeigt sich Europa noch einmal in voller Pracht, bevor es unaufhaltsam in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs taumelt. Aus tänzerischer Eleganz wird eine Materialschlacht, beendet durch einen krachenden Schlusspunkt. Ganz anders endet die Deutsche Erstaufführung von We are the lucky ones bei der Ruhrtriennale. Komponiert hat sie der Brite Philip Venables, im Auftrag der Triennale und der Dutch National Opera. Sein klingendes Porträt der Nachkriegsgeneration, die vor allem Aufbau, Wohlstand und Frieden erlebte, verabschiedet sich nicht in grelle Apokalypse, sondern in einen stillen Abgang: ein schüchtern-ratloser Blick in eine ungewisse Zukunft.

Traumtänzern gleich schlendern acht elegant gekleidete Sängerinnen und Sänger in der Jahrhunderthalle Bochum über die Bühne – oder genauer: um ein gähnendes Loch in ihrer Mitte, das zugleich Orchestergraben für die Bochumer Symphoniker bildet und sie optisch verschluckt. Den Text verfassten Nina Segal und Ted Huffman aus 80 Interviews, geführt mit Menschen, die zwischen 1940 und 1949 geboren wurden. Historische Ereignisse verschränken sich mit Alltagsanekdoten: erste Küsse, erste Kinder, erste Gehälter. Auch das Schweigen der Eltern über den Krieg oder der eiserne Primat der Arbeit blitzen in den Erinnerungen auf – so nüchtern wie beiläufig.

Ein stiller Zauber geht von diesem Abend aus, trotz großer Orchesterbesetzung, die Venables um Saxophone, Schlagzeug und Akkordeon erweitert hat. Eine einsame Laterne beleuchtet die Rückwand der Jahrhunderthalle, der Blick fällt auf nackten Stahlbeton und blinde Fenster. Nach und nach kleben die Sängerinnen und Sänger diese mit weißen Papierbögen zu, wodurch eine Projektionsfläche für Fotos und Videos entsteht.

Die Figuren dieser Oper bleiben namenlos. Geschmeidig bewegen sie sich um eine Mitte aus Nichts: hier wird keine Kraft fühlbar, steht kein großer Wille im Zentrum, obwohl die aufkeimende Melancholie jener aus Rilkes berühmten „Panther“-Gedicht ähnelt. Der Titel von We are the lucky ones ist den im Vorfeld geführten Interviews entnommen: „Die vor uns waren, hatten es schlechter – und die nach uns kommen, werden es ebenfalls schlechter haben“, lautet die Botschaft, das wehmütige Fazit einer Generation.

Philip Venables hat dazu einen Soundtrack komponiert, der mit zeitgenössischer Oper nur entfernt zu tun hat. Seine Tonsprache unterstützt Stimmung, Emotionen und Erzählfluss, bleibt im Ausdruck aber erstaunlich konventionell. Es gibt Klangflächen, die teils schillernde Schlieren bilden, im Wechsel mit Passagen, die vom Schlagzeug rhythmisch vorangetrieben werden. Über weite Strecken gleicht die Partitur einer geschickten Musik-Collage mit vielen nostalgischen Anklängen (Jazz, Swing, Film, Musical). Das Gesangsoktett beeindruckt durch kultivierte Stimmen, die hörbar mehr vermögen, als ihnen zugestanden wird. Der Tonumfang bleibt schmal, die Linien schlicht, oft nahe am Sprechgestus.

Nahzu alles geht glatt und folgenlos in den Gehörgang. Bisweilen gerät die Musik illustrativ – etwa wenn beim Start der Apollo-Rakete die Töne steil nach oben streben. An anderen Stellen streift sie süßliches Sentiment, beispielsweise im Klassentreffen-Terzett. Dennoch gelingt es den Bochumer Symphonikern unter der Leitung des libanesisch-polnischen Dirigenten Bassem Akiki, der Partitur verschiedene Schichten abzugewinnen und einen hypnotischen Sog über die Szene zu legen.

Mit knapp 110 Minuten ist das Werk für eine Triennale-Premiere auffallend kurz, bewährt sich aber gerade durch seine Auslassungen. Wenn 1963 auf der Rückwand erscheint und eine Sängerin ruft: „Sie haben ihn in den Kopf geschossen!“, braucht es keinen Namen – Kennedy ist sofort im Raum. Auch andere kollektive Schlüsselbilder – Apollo, Atombombe, Mauerfall, 9/11 – werden nicht ausgewalzt, sondern minimalistisch angerissen.

Das Weltgeschehen ist in We are the lucky ones nur eine Folie für die Erinnerungen und Geschichten alltäglicher Menschen. In deren Freuden und Sorgen, manche davon durchaus banal, dürfte sich mancher wiedererkennen. Wer wird den Nachlass ordnen? Was wird die Zukunft bringen? Am Boden verheddern sich noch die Luftschlangen vom Fest bei der Einweihung des ersten Hauses. Nach und nach treten sie von der Bühne ab, die Vertreter der glücklichen Generation, im Gesicht ein unsicheres, erstauntes, beinahe demütiges Lächeln. Die Party ist vorbei.