Keine Schwindlerin
Die Romanow-Prinzessin ist echt. Jedenfalls sprechen starke Gründe dafür. Da sind die Wissen aus dem innersten Zirkel der Zarenfamilie beglaubigenden Erinnerungsblitze der sonst unter Amnesie leidenden Kandidatin, der oft wie von Ungefähr aufsteigende gebieterische Ton des Hochadels und jene Spieluhr, die sie so liebt, weil das Kleinod ein Geschenk der angehimmelten Großmutter ist. Letztere war vor der Oktoberrevolution von 1917 und der Füsilierung der übrigen Zarenfamilie nach Paris übergesiedelt. Von ihr hing die Anerkennung der jungen Frau als Zarewna ab. Der Aufstieg von einer aus dem Nirgendwo kommenden Petersburger Straßenkehrerin zur Prätendentin auf Namen, Titel und Auslandsvermögen einer Spitzenaristokratin. Von zwei Schwindlern zur Anwärterin aufgebaut, mit ihnen vor den Sowjetschergen im Sonderzug nach Paris entkommend - und den geplanten Betrug durch authentisches Wesen überflügelnd. Während die Indizien für die Prinzessinnenidentität sich beinahe zur Beweiskraft verdichten, lernt die junge Frau an sich als Anastasia zu glauben. Und auch für die Zarenmutter ist sie keine Hochstaplerin unter anderen, sondern die Enkelin. Selbstbewusstsein und Erfolg der jungen Frau machen sie zur Gefahr für den jungen Sowjetstaat, dessen Sicherheitsorgane ihr bis nach Paris nachstellen, um ihr jene Kugel zu verpassen, die sie in Jekaterinburg verfehlt hat. Angesichts der Lebensgefahr lässt die beinahe schon offizielle Zarentochter die Aussichten auf Titel und Reichtum fahren. Sie flieht die Seinemetropole mit unbekanntem Ziel.
Komponist Stephen Flaherty, Librettist Terrence McNally und Songtexterin Lynn Ahrens wurden vom Disneyfilm zum Thema aus dem Jahr 1997 inspiriert, an dem Flaherty und Ahrens bereits beteiligt waren, nehmen sich aber dennoch bedeutende Lizenzen. Freilich durchweht noch immer Märchenhaftes das vor acht Jahren am Broadway herausgekommene Musical. Die Geschichte um die Anwärterin auf den Prinzessinnentitel kann auch deshalb ihren Sog entfalten, weil darin implizit der amerikanische Traum aufscheint, sich selbstbestimmt ganz und gar neu zu erfinden. Und so enthält denn Flahertys Partitur manch marktgängigen Balladenzucker und Hymnenverve, geht aber immer wieder darüber hinaus. Der volksliedgetränkte Abschied der russischen Exilanten im Sonderzug nach Paris, aus dem heraus ein adliger Intellektueller kurz vor Erreichen der russischen Grenze verhaftet und erschossen wird, geht unter die Haut. Wie Flaherty die Schwanenseemusik beim ersten Zusammentreffen von Zarenmutter und Aspirantin auf den Prinzessinnentitel seinem eigenen musikalischen Idiom unterlegt, Tschaikowskis Musik sich teils anverwandelt und teils verfremdet, hebt sich deutlich von üblicher Musicalkonfektionsware ab. Gelegentlich sorgt deftiger Broadwaysound dafür, dass das Werk nicht in Sentiment ertrinkt.
Die Bielefelder legen sich mit bewährter Musicalkompetenz ins Zeug. Regisseurin Janina Niehus erzählt versiert am Stücktext entlang. Der Zug ins Märchenhafte zeigt sich unterstrichen, das Politische weitgehend ausgeblendet. Dass die Ignoranz der Romanows die Revolution erst hervorrief, bleibt der Andeutung überlassen. Die Figuren schweben durch ein Paralleluniversum, das in einigen Punkten dem unseren gleicht. Grausam mag auch in jener anderen Welt bisweilen das Leben wohl sein, niemals aber ziellos, sinnentleert und ohne Hoffnung. Durch Revolution und Pariser Exilaristokratie hindurch findet Anastasia sich selbst, um sich - daran lässt selbst der offene Schluss keinen Zweifel - unbekannte Weiten zu erschließen. Sebastian Ellrich, Bühnen- und Kostümbildner sowie Lichtdesigner in Personalunion, stellt ein transparentes Gerüst aus Treppe und Bögen auf die Bühne, das vom Eisenbahncoupé bis zur Stiege des Palais Garnier für vieles taugt. Leuchtsilhouetten vergegenwärtigen jeweils die Newa- und Seine-Metropole. Die gesamte Personnage hüllt Ellrich in reinstes Weiß. Anzüge, Kostüme und Roben zeigen sich von der Garderobe zu Beginn des letzten Jahrhunderts abstrahiert.
Musikalisch haben die Bielefelder Musical einfach drauf. Selbstredend agiert der Chor des Hauses unter Hagen Enke vokal und spielerisch versiert. Inzwischen proaktiver Pensionär, lässt Spartenkapellmeister William Ward Murta die Bielefelder Philharmoniker taufrisch aufspielen. Vom Schmachtfetzen bis zum Broadway-Schmiss fesseln Kapellmeister und Klangkörper das am Premierenabend auffallend junge Publikum. Da haben wohl viele Premieren-Abonnenten ihre Billetts dem Nachwuchs überlassen. Tough und herzig verkörpert Lara Hofmann die Titelfigur. Andreas Bongard gibt den in der Petersburger Straßenkehrerin die Anastasia erweckenden, zwischen Gauner und ehrlicher Haut changierenden Lebenskünstler Dimitri. Seinem Kumpan Gleb Vaganov verleiht Nikolaj Alexander Brucker die Attitüde des pseudoadligen Hochstaplers Gleb Vaganov. Der Zarenmutter Maria Fjodorowna verleiht Betty Vermeulen gebührende Autorität.
Es bedarf etlicher orchestraler Rausschmeißer, um das enthusiasmierte Publikum aus dem Auditorium zu spedieren.