Ein Mann am Rande der Gesellschaft
Ist er schwul? Oder nicht? Holt er sich die Jungs nicht nur, damit sie beim Einholen der Netze ordentlich mit anpacken... oder will er, dieser Peter Grimes womöglich mehr von ihnen? Die Leute des "Borough", also jenes Dorfes irgendwo an der englischen Ostküste, haben ihr Urteil längst gefällt: Peter Grimes ist schuld am Tod seines Lehrjungen William! Der Freispruch nach einem intensiven Verhör durch Dorfrichter und Bürgermeister (aus Mangel an Beweisen) ist den Bewohner:innen dabei völlig egal. "Homo" und "Paedo" lauten die stigmatisierenden Worte, mit denen sie Grimes' Boot beschmieren oder hochgehaltene Plakate beschriften. Und schon ist er da: der Außenseiter dieser verschworenen, selbstgefälligen Dorfgemeinschaft. Der Sündenbock, Inkarnation des Fremden, den jede Gesellschaft zur Stabilisierung ihres "Selbstbewusstseins" braucht.
In Benjamin Brittens 1945 uraufgeführter Oper Peter Grimes sind ganz gewiss eigene Lebenserfahrungen des Komponisten eingesickert, die er als Schwuler hat machen müssen zu einer Zeit, da Homosexualität ein absolutes Tabu war. Aber gehen wir heute, 80 Jahre später, anders damit um? Offener? Toleranter? Ja, es gab eine Phase, in der das Thema mehr eine Nebensache war. Inzwischen aber wendet sich das Klima wieder, vor allem dort, wo die Rechten immer mehr an Einfluss gewinnen und das Wahlvolk deren Parolen zum Teil willig nachläuft. Und denen geht es nicht nur um Schwule und Lesben sondern um jede Form von Anderssein, das angeblich nicht ins Stadtbild eines Dorfes gehört und deshalb abzulehnen ist. Insofern behandelt Peter Grimes ein zeitloses Sujet. Zeitlos ist auch der Ort, in den Matthew Wild seine Inszenierung ansiedelt. Dem südafrikanischen Regisseur geht es um den Kern der Geschichte: um Hass, Vorverurteilung, Ausgrenzung, das Gefühl einer Gemeinschaft, im Recht zu sein, recht zu haben. Conor Murphy baut dazu eine im Prinzip unspektakuläre Bühne: zwei glatte Spielflächen, auf der Rückseite durch hohe Wände begrenzt, von oben durch eine schiefe Ebene gedeckelt - hermetisch. In der Mitte ein Flüsschen, das die Spielflächen voneinander teilt. Ein idealer Raum, der Gelegenheit bietet, den Fokus ganz auf die Psychologie der handelnden Personen zu richten. Interessant auch die Idee, die "Sea Interludes", Brittens verbindende orchestrale Zwischenspiele mit Videosequenzen zu bebildern. Hier wird sichtbar, was sich manch einer im Dorf als Theorie zurechtgelegt hat, wie denn Grimes' Junge wohl zu Tode gekommen sein mag. Und die Menschen im Publikum können sich überlegen, zu welcher der angebotenen Theorien er oder sie neigt.
Ein Stück also, in dem es wesentlich um Psychologie geht, um Hoffnungen, Wünsche, Wut, Verzweiflung, Sehnsucht. Das Bielefelder Ensemble spürt all diesem in Gänze auf bezwingende Weise nach. Und mit einer Intensität, die unter die Haut geht, darstellerisch wie sängerisch. Nenad Cica ist in der Titelrolle ein ebenso starker Einzelkämpfer wie liebesbedürftiger Mann mit dem Wunsch nach einem Leben in Ruhe und Frieden. Balsamisch kann sein konditionsstarker Tenor sein, dann wieder wild und aufbrausend, verletzt, enttäuscht, resigniert. Alle Facetten dieser bemitleidenswerten Kreatur macht Cica transparent und vor allem glaubhaft. Das gilt in gleichem Maße für Dusica Bijelic, die als Ellen Orford sich auf die Seite des diskriminierten Fischers schlägt. Und für Evgueniy Alexiev als Kapitän Balstrode, dem alten weisen Mann und Freund des Peter Grimes, der diesem nicht - wie üblich - am Ende den Rat gibt, seinem Leben draußen auf dem Meer ein Ende zu setzen - sondern selbst Hand anlegt und Grimes wohl eher aus Mitleid ertränkt, gemeinsam mit Dr. Crabbe! Dieser tritt als stummer Begleiter von Balstrode auf und erscheint mit der Physiognomie Benjamin Brittens, des Komponisten.
Rollentypisch und -gerecht auch Dalia Schaechter als resolute Wirtshauschefin Auntie, die nicht nur Alkohol im Angebot hat sondern auch andere Dienstleistungen zur Freude der Männer im Dorf anbietet. Dafür sind Mayan Goldenfeld und Cornelie Isenbürger als Aunties schrille "Nichten" zuständig! Zur tollen, ja bewundernswerten Ensembleleistungen tragen auch alle übrigen „kleineren“ Rollen bei, nicht zuletzt Chor und Extrachor.
Robin Davis am Pult der Bielefelder Philharmoniker gibt als neuer Generalmusikdirektor seinen Einstand - ein Dirigent mit großem Feingefühl für die changierenden Stimmungen, für Natur- und Seelenbilder gleichermaßen. Und mit jeweils schön herausgearbeitetem Kolorit, das in so vielfältiger Weise in Brittens komplexer Partitur steckt. Ein großer Wurf also - und ein verheißungsvoller Beginn einer neuen Ära.