Hübsch verpackte Längen
Die große Spiegelwand macht wirklich etwas her. Schräg hängt sie über der Bühne und zeigt das, was die Zuschauer normalerweise nur von vorn sehen, gleichzeitig von oben. Mit diesem Kniff erzeugt Bühnenbildnerin Heike Vollmer im zweiten Akt der Operette Wiener Blut einen optischen Rausch tanzender Festgäste im prachtvollen Palais des Grafen Mitrowski - für die barocke Ausstattung sorgt der gespiegelte Bildteppich. Auch Kostümbildnerin Denise Heschl lässt sich nicht lumpen: Opernchor und Ballettcompagnie bringen in prächtigen Gewändern den Wiener Kongress zum Tanzen.
Der Kongress bildet die historische Folie eines Stücks, das der Walzerkönig Johann Strauss eigentlich nie geschaffen hat: Aus seinem gewaltigen Oeuvre wurden posthum allerlei wohlklingende Stücke zu einer neuen Operette zusammengepuzzelt. Pünktlich zum 200. Geburtstag des Komponisten am 25. Oktober brachte das Aalto-Theater die Neuproduktion heraus; einen Monat später erst wandert die Zusammenarbeit mit „Johann Strauss 2025 Wien“ in die Donau-Stadt.
Historisch ist allerdings nicht nur der Hintergrund des Stücks, das im Wesentlichen von den üblichen Liebeshändeln und Verwechslungsspielen handelt. Historisch wirkt auch die Inszenierung von Nikolaus Habjan, der in Essen bereits als moderierender Puppenspieler beim „Karneval in Rom“ auftrat. Denn nicht nur die üppige Ausstattung erinnert an jene Zeiten, als im deutschen Fernsehen noch „Erkennen Sie die Melodie?“ gefragt wurde und populäre Kammersängerinnen sich in eigenen Shows die Ehre gaben, um Opern- und Operettenmusik zu präsentieren. Auch das Typenarsenal, das auf etwas sonderbare Weise die laxe Moral der Wiener feiert, bedient eher die Klischees, als dass es sie ironisch bricht: Dass die drei Frauen, mit denen ein Graf, ein Premierminister und ein Kammerdiener sich amüsieren wollen, auch mal zur Ohrfeige greifen, ist ja eine altbekannte Aktion. Die Regie hält zwar alles munter in Bewegung und serviert auch kleine Ausflüge ins Parkett. Aber auch an der zurückhaltenden Reaktion des Premierenpublikums, das erst am Schluss reichen Beifall spendet, lässt sich ablesen: Hier geht es eher putzig als prickelnd oder gar gepfeffert zu. Woran auch kleine Aktualitäts-Einsprengsel in den Dialogen (Datenschutz, Problem im Stadtbild) wenig ändern.
Den größten Sinn für den besonderen Reiz der Wiener Operette offenbarte Dirigent Tommaso Turchetta. Nicht nur, dass er mit den wohlklingenden Essener Philharmonikern auch in der Koordination mit dem Chor alles bestens im Griff hatte - in den Tempi zum Titelschlager „Wiener Blut“ oder dem Vorspiel zum dritten Akt bot er auch jene Raffinesse, die das wichtige Pendant zu Schwung und Klangpracht bedeutet. Klangpracht, auf die besonders das Sängerpaar der Hauptpartien setzte. So setzte Raffaela Lintl bei ihrer Auftrittsarie als Gräfin im starken roten Outfit mehr auf die eingelegten leuchtenden Spitzentöne als aufs feine Legato, und Clemens Kerschbaumer als ihr untreuer Gatte passte zwar wunderbar in die Rolle, erweckte aber bei manch effektsatten Passagen den Eindruck, als wolle er gleich noch ein Schwert schmieden. Der helle Tenor von „Kammerdiener“ Boris Eder bildete dazu einen guten Kontrast, auch Natalie Labourdette war als Franziska wieder perfekt besetzt. Als Dritte im Frauenbunde musste sich Christina Clark mit der kecken Pepi bescheiden. Stefan Stoll konnte in der Rolle des Premierministers mit kernigen Tönen, aber mehr noch mit gutem komödiantischem Timing punkten: Als Figur mit „deutschem Charme“ kultivierte er ein kurioses Sächsisch.
Nach knapp drei Stunden war das Publikum offenkundig zufrieden, aber wohl auch operettengesättigt: Gerade im zweiten Akt hängt die Spannung durch. Ein bisschen frecher und aufmüpfiger, aber gern auch sentimentaler hätte das Geburtstagsgeschenk für den Walzerkönig schon ausfallen können.