Was wir von dem Bären lernen können
Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute…? - Na ja, wir werden es nie erfahren. Jedenfalls nicht vom Nashorn persönlich. Denn das Tier ist längst tot, bevor das Stück, das in einem Zoo spielt, überhaupt losgeht.
Also darf man mutmaßen. Genau das tun Papa Pavian und das Murmeltiermädchen denn auch. Der Bär dagegen, der gerade als Neuling im Zoo angekommen ist, muss sich erst einmal in seinem umzäunten Gelände orientieren und stellt zu allererst fest: „irgendwas stinkt hier?. Papa Pavian gibt die Antwort: „Das ist bloß der Schornstein da, auf der anderen Seite des Zauns. Die Öfen, weißt du.?
Langsam erahnt man, wann und wo diese Zoogeschichte spielt. Da ist die Rede von „den Gestreiften?, die in Waggons herangekarrt werden und auf zwei Beinen gehen. Von „den Gestiefelten?, die das Sagen haben und Kommandos geben… - und zuvor schon von einer „Stadt? mit schönen Häusern auf der einen, hässlichen Häusern auf der anderen Seite.
Buchenwald ist gemeint, das Konzentrationslager der Nazis, das 1938 einen „Zoologischen Garten? bekam, der den Mitgliedern der SS und ihren Familien als angenehmes Freizeit-Event diente. Mit einer auf einer kleinen Anhöhe gelegenen Bärenburg. Just hier entfaltet sich die Handlung - wobei Autor Jens Raschke sein Schauspiel Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute dezidiert NICHT als Geschichtsstunde verstanden wissen will, nicht als eine Erzählung von dem, was vor mehr als 80 Jahren im KZ Buchenwald passierte. Im Gegenteil: Raschke stellt in dem 2014 mit dem Deutschen Kindertheaterpreis ausgezeichneten Theaterstück Fragen hinein ins Hier und Jetzt, die jede und jeder für sich beantworten muss. Just diesen Fragen geht auch die Jugendoper nach, zu der Daniel C. Schindler aus Raschkes Schauspiel-Vorlage ein Opernlibretto destilliert und zu dem Edzard Locher seine Musik geschrieben hat.
Um es kurz zu machen: in welche Rolle würden wir Heutigen schlüpfen, welche Haltung einnehmen gegenüber einer brutalen Realität, verantwortet von einem unmenschlichen Regime? Wären wir Bär, der zunehmend Fragen stellt, verstehen will, was jenseits des Zaunes passiert und weshalb dort Schornsteine qualmen? Oder wären wir Pavian, der lieber wegschaut? Für Regisseur Stephan Rumphorst geht es „um Zivilcourage, Mut und Mitgefühl?. Und darum, in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Spannungen klare Kante zu zeigen: gegen jede Form von Entmenschlichung und Hass - für ein menschliches Miteinander. Rumphorst schafft einen Zugang zur Thematik, der ohne Holzhammer auskommt dank des konzentrierten Librettos und dank einer Musik, die zwischen Freundlichkeit und Friedlichkeit einerseits, aggressiver Ausbrüche andererseits changiert: Musik, die Emotionen weckt und damit eine Dimension eröffnet, die über das gesprochene Wort hinausgeht. Wendy Krikken, Cosima Büsing und Franz Schilling sind die idealen Akteur:innen der gut 80minütigen Opernversion der Raschke-Vorlage. Gesungen und gespielt wird mit Leidenschaft und Überzeugung, dass man ihnen jeden Satz, jede Melodie all ihrer Rollen abnimmt. Edzard Lochers Musik verlangt „nur? Schlagwerk, entwickelt daraus ein farbiges Kaleidoskop an Klängen.
Die Junge Oper Dortmund empfiehlt diese Inszenierung Menschen ab 12 Jahren - was nun keineswegs heißen soll und kann, dass nicht auch Angehörige der mittelalten oder alten Generation eine Menge über die Geschichte, vor allem sich selbst erfahren können. Also: unbedingt hingehen!