Furien müssen draußen bleiben
Von seiner ganzen Anlage her ist Christoph Willibald Glucks Reformoper Orpheus und Eurydike ein Grenzgänger zwischen Oper und Ballett. Seit der Uraufführung 1762 in Wien hat sich eine Doppeltradition herausgebildet: Große Bühnen pflegen sowohl Opernproduktionen als auch getanzte oder gemischte Fassungen. Berühmte Choreographen wie Pina Bausch, John Neumeier, Joachim Schlömer und Birgit Scherzer haben Maßstäbe gesetzt.
Im Gelsenkirchener Musiktheater ist der Dreiakter nun die letzte abendfüllende Produktion von Giuseppe Spota, Direktor der MiR-Dance Company, der das Haus im Sommer 2026 auf eigenen Wunsch verlässt. Man spürt den Wunsch, sich noch einmal umfassend zu profilieren, denn er zeichnet an diesem Abend für nahezu alles verantwortlich: für Regie, Choreographie, Bühne und Kostüme.
Um die Sphäre der Lebenden und der Toten voneinander zu trennen – Orpheus bemüht sich ja, seine verstorbene Frau Eurydike ins Leben zurückzuholen – hat er eine fünf Meter hohe, kraterförmige Wand auf die Bühne gestellt. Sie soll eine Staumauer symbolisieren, die „den Fluss des Lebens hemmt“. Das klingt spektakulär, aber mit dem raumgreifenden Dauerbild lässt sich nicht viel anfangen, schon nach zehn Minuten gibt es nichts Neues mehr zu sehen.
Das Tanzensemble springt und klettert unentwegt in der Halfpipe hoch und rutscht wieder herunter. Die Bühne wird zur Turnhalle; Glucks feierlich getragene Musik wird penetrant von Quietschgeräuschen begleitet, von Trauer ist so gut wie nichts zu fühlen. Der Dauereinsatz der Drehbühne verrät Ratlosigkeit. Dass die Hinterseite dieser Konstruktion das Totenreich darstellt, ist ein aufgesetztes Regie-Statement.
Aktivismus auf der einen Seite, Statuarik auf der anderen. Die Sängerinnen sind in edles Weiß gewandet, aber weil die Regie sie nicht zu führen weiß, wirken sie in der Szene wie Schaufensterpuppen. Reibung entsteht zwischen diesen Parallelwelten nicht. Sie beleuchten sich auch nicht gegenseitig. Für ein Stück, das historisch für die Integration von Tanz, Chor und Handlung steht, ist das zu wenig.
Und die Furientänze? Die koppelt Spota aus, lässt sie vor Vorstellungsbeginn im Opernfoyer von einem Klavierquintett spielen, während die MiR Dance Company durchs gläserne Treppenhaus tanzt. Den Chor hingegen, in anderen Inszenierungen dieser Oper gern bewegungsfreudig eingesetzt, hat er auf dem Rang abgestellt.
Nahezu tragisch ist diese Kette falscher Entscheidungen mit Blick auf die Mitwirkenden, deren gute Leistungen auf diese Weise verschleudert werden. Dabei gibt es ein Frauentrio mit edlen Stimmen: Constanze Jader gießt einen würdevollen Ernst in ihren Mezzosopran, ist stimmlich aber weit beweglicher, als die Regie-Vorgaben es zulassen. Sie kann den Mantel der Trauer stimmlich lüften, drängt Eurydike mit verzweifelten Tönen, ins Reich der Lebenden zurückzukehren. Der Sopran der Südkoreanerin Heejin Kim hat genau die blühenden Farben, die es als Kontrast braucht. Ein junges Mitglied aus dem Opernstudio, Tamina Biber, erfüllt die kleine Rolle als Amor mit Feinheit und hellem Timbre.
Der Opernchor, bei Gluck ein zentrales Element der Reformidee, ist im Grunde die dritte Hauptfigur des Stücks. In der Einstudierung von Alexander Eberle präsentiert er sich als vorzügliches Kollektiv, das Orpheus mit Widerstand (Furien), Mitgefühl (Trauernde) oder Zustimmung (selige Geister, Schlussjubel) konfrontiert. Die Tänzerinnen und Tänzer treten als geschlechtslose Doppelungen der Eurydike auf, sollen zugleich aber auch Seelenspiegel des Orpheus sein: eine Idee, die sich ohne Lektüre des Programmhefts nicht vermittelt. Die MiR Dance Company bringt Körpereinsatz bis an die Grenze zum Verletzungsrisiko, aber was sie künstlerisch wirklich vermag, lässt sich an dieser Produktion nicht recht erkennen. Der zunächst etwas dünne Klang der Neuen Philharmonie Westfalen gewinnt unter der Leitung von Giuliano Betta zunehmend an Glanz.
An ein „lieto fine“ glaubt die Regie nicht: Im Moment ihrer Wiedervereinigung sind Orpheus und Eurydike zu weit voneinander entfernt, um sich auch nur zu berühren. Vom Premierenpublikum war in anderthalb pausenlosen Stunden kein Laut zu vernehmen – nicht einmal nach der berühmten Arie „Che farò senza Euridice“ gab es Szenenbeifall. Wer da einen lauwarmen Schlussbeifall vorausahnte, sah sich getäuscht: Die Produktion wurde allgemein bejubelt; die Götter allein wissen, weshalb.