Übrigens …

Marija im Schauspielhaus Düsseldorf

Marija kommt nicht

Im Vorfeld zu ihrer ersten Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus hatte Andrea Breth zum großen Rundumschlag ausgeholt. Nur des neuen Intendanten Staffan Holms wegen sei sie bereit, in der Stadt zu inszenieren. Die Düsseldorfer Bühne habe menschenfeindliche Proportionen, die Akustik tauge nichts – und überhaupt: die Düsseldorfer! Die seien satt und würden ihren Inszenierungsansatz bei Isaak Babels Revolutionsstück Marija sowieso nicht goutieren.
Na gut: Satter Düsseldorfer Geldadel pilgert zu opulentem Breth’schen Schauspielerfest. Und das soll nicht funktionieren? Die konservative, risikoaverse Zuschauerschaft soll das feinfühlige, psychologisch genaue, historisierende Theater der Andrea Breth nicht schätzen? Das wär‘ ja mal ne Überraschung. – Breth jedenfalls schätzt ganz offensichtlich die herausragende, von Stadt, Land und Geldadel finanzierte Düsseldorfer Bühnentechnik ebenso wenig wie die vielfältige Möglichkeiten bietende Dimension der Bühne: Sie hat dieselbe drastisch verengt und sich von Raimund Voigt ein paar postrevolutionäre russische Salons mit Reminiszenzen ans untergehende Großbürgertum bauen lassen, für die selbst die Verhältnisse im beengten heimischen Wiener Akademietheater reichlich großzügig wären. Aber schön sindse doch: Wunderbar altmeisterliche Bilder malen Voigt, Moidele Bickel als akkordarbeitende Kostümbildnerin (angeblich 110 Kostümeinheiten für diese Aufführung!) und der großartige Lichtmeister Erich Schneider auf die Bühne – in einem Realismus, den man im heutigen Theater nur noch selten sieht. Wie gemalt wirkt auch, wie das 22köpfige Ensemble die erste Hälfte der acht Szenen des Stücks bebildert: Wir sehen bis in die kleinste Nebenrolle unglaublich liebevoll gezeichnete historische Charaktere, Personal aus dem Petrograd des Jahres 1920, als der alte Adel aus der Bahn geworfen war, aber das Proletariat erst ganz langsam mit neuem Selbstbewusstsein aus den Kellern krauchte. Und das Land sich im polnisch-sowjetischen Krieg befand: Unsicherheit allenthalben – und in solchen Zeiten ist der Mensch des Menschen Wolf. In der Welt rund um die Familie des ehemaligen Generals Mukownin wird getrickst und geschoben, geschmuggelt und gehurt – man versucht, sich mit den neuen Zuständen zu arrangieren: „Die Zeit anzuhalten, bedeutet den Tod“, heißt es – ein Satz von brutalem Wahrheitsgehalt im ideologisch aufgeheizten Kosmos der Revolutionäre -, doch die Unsicherheit der postrevolutionären Zeit bringt auch eine völlige Entsolidarisierung der Gesellschaft mit sich. In Zeiten der Revolution vergröbere sich der Mensch, und die zwischenmenschlichen Beziehungen gingen baden, sagt Breth – und sieht ähnliche Zeiten nach Aufständen infolge von Wirtschaftskrise und Turbokapitalismus wieder auf uns zukommen.
Aber mit Ausnahme eines einzigen Satzes deutet in Breths Inszenierung nichts auf Parallelitäten in der Gegenwart hin: „Glück besteht nicht darin, Macht über andere zu haben. Noch in dieser Gier. Der Gier, die wir nie befriedigen können“, sagt einmal der ehemalige Fürst Sergej, eine der wenigen vorwiegend positiven Figuren des Stücks. Auch der Fürst, der vor den Lastarbeitern vom Kanal für eine warme Mahlzeit Cello spielt, ist jedoch kein Kind unserer Zeit: Christoph Luser gibt ihn wunderbar leicht, sanftmütig, mit innerem Strahlen, aber weltfremd. Breth entwirft ein Panorama der Lebensumstände im Petrograd um 1920 – und zeigt das Ausmaß der Desillusionierung auf, die Babel, der ursprünglich große Hoffnungen in die revolutionäre Bewegung gesetzt hatte, erfasst. In den ersten fünf Bildern erleben wir vorwiegend das Auseinanderfallen der familiären Bindungen und der moralischen Werte. Der frühere zaristische General Mukownin, Oberhaupt der Familie, ist bei Peter Jecklin eine von den geschichtlichen Ereignissen demontierte, aber immer noch würdevolle Gestalt: „Die Augen offen zu halten, das ist mein Recht. Und auf dieses Recht werde ich nicht verzichten.“
Seine Tochter Ludmilla kalkuliert da nüchterner: Die in der Zarenzeit genossenen Privilegien sind verloren, also wirft sie sich dem jüdischen Schieber Dymschitz an den Hals, von dem sie sich zumindest einen gewissen Wohlstand verspricht. Doch dessen fragwürdiger Geschäftspartner Wiskowski vergewaltigt sie und infiziert sie mit dem Tripper, womit ihr rasanter Niedergang beginnt. Marie Burchard spielt die Oberflächlichkeit und scheinbare Sorglosigkeit der Ludmilla - im Grunde nur ein verzweifeltes Arrangieren mit den neuen Verhältnissen - mit großer Intensität und Glaubwürdigkeit, nimmt uns aber nicht mit zu den Abgründen des gefallenen, lebenslang gestraften Mädchens. Kleine Nebenfiguren faszinieren uns mit der Genauigkeit und Präzision ihres Spiels: Pierre Siegentahler und Moritz Löwe als Invaliden ohne Beine bzw. mit grässlich entstelltem Gesicht, Bärbel Bolle als alte dicke Kinderfrau Njanja, ungeheuer präsent und mit kleinen, aber wirkungsvollen Gesten wie z. B. dem Ausgießen der Tasse in die Untertasse, das man seit dem Biedermeier in feinen Häusern praktizierte, ihre Verwurzelung in der aristokratischen Zarenzeit andeutend: exemplarisch für Andreas Breths Liebe zum Detail in ihren Regiearbeiten.
Gerade als wir des ausgiebigen, detailgenauen, aber handlungsarmen Panoramas müde werden, bekommt die Inszenierung Schärfe. Immer wieder war von Marija Nikolajewna die Rede gewesen, der Titelheldin ohne eigenen Auftritt. Idealisiert worden war die ältere Tochter Mukownins als die Frau, die sich zupackend den neuen Herausforderungen gestellt hat, die umsichtig und erfolgreich ist, auf die man sich stützen kann. Sie ist „unter die Soldaten gegangen“, Politkommissarin bei der Roten Armee. „Nur Marija ist eine richtige Frau; sie ist glücklich in der Polit-Abteilung.“ - ??? – Nun, Marija ist weit weg. Sie kümmert sich um jeden Mist, selbst um den Bibliotheksausweis ihres Vaters  - aus der Ferne, in einem langen, letztlich recht unpersönlichen Brief, den die Hausdame Katja General Mukownin vorlesen wird. Die beiden lachen sich kringelig, zunehmend höhnisch: stützen kann man sich auf Marija nicht. Doch als sie ihren Besuch ankündigt, wird Hausputz gemacht, und die Schonbezüge werden von den Möbeln genommen. Umsonst, denn natürlich erscheint die Karriere-Kommissarin nicht, und Vater Mukownin streckt’s danieder – Exitus.
Im radikalsten der acht Bilder sind wir auf dem Polizeirevier. Ludmilla zeigt ihre Vergewaltigung an. Es herrscht nahezu völlige Dunkelheit; mit scharfen Effekten schafft Erich Schneider ein Meisterwerk der Lichtkunst. Ebenso scharf wirken die einschüchternden Stimmen der vernehmenden Beamten. Zeugen werden abgeknallt, Ludmilla wird brutal mit dem Kopf auf den Tisch geschlagen und verhaftet.
Marija wurde im Jahre 1935 in der Sowjetunion gedruckt, aber sogleich mit Aufführungsverbot belegt. Isaak Babel, dessen rein beobachtende Gesellschaftsbeschreibung von Maxim Gorki als zu vage, zu unklar in ihrer Zielsetzung gebrandmarkt wurde, überlebte das Erscheinen des sich jeglicher Idealisierung der Revolution widersetzenden Stücks um knapp sechs Jahre: Im Mai 1939 wurde er verhaftet und 22 Monate später hingerichtet. Dass er noch vier Jahre in Freiheit leben durfte, verdankte er vielleicht der achten und letzten Szene des Dramas: Da wird die Wohnung der Mukownins vom Muff befreit und renoviert, und das Proletariat zieht ein. Umverteilung im Sinne des Sowjetregimes. Bei Elisabeth Orth ist Agascha, die neue Hausmeisterin, jedoch ein bellender Drache im langen Pelzmantel. Immerhin wagt sie Kritik an den Gewerkschaften und an Marija Nikolajewna. Von draußen klingt Marschmusik herein. Die Putzfrau beginnt, fröhlich dazu zu tanzen. Dann schlägt ihr Tanz schlägt um in zackiges Paradieren. In Parodieren…
Andrea Breth überlässt die Relevanz-Show den Girls von She She Pop. Wie so oft begnügt sie sich mit genauem, überaus fein gearbeitetem Schauspielertheater in stimmigen Kulissen und Kostümen. Das ist vielleicht nicht unbedingt zeitgemäß, aber es gefällt der Mehrzahl der Zuschauer. Gerade in Düsseldorf. Wo übrigens nach dem Umbau auch die Akustik stimmt: Selbst in Reihe 16, knapp hinter dem früheren berüchtigten Akustik-Loch, konnte man perfekt verstehen. Auch das befriedigte Raunen aus Reihe 15: „Das war ja mal richtiges Theater.“ Nun, welches von früher eben. Aber mit richtigen Schauspielern!